6G-Messtechnik

Nach dem Standard ist vor dem Standard

13. April 2021, 11:48 Uhr | Autor: Roger Nichols / Redaktion: Diana Künstler

Fortsetzung des Artikels von Teil 2

Interview: Weshalb wir 6G brauchen

Dr.-Ing. Dr.-Ing. habil. Ivan Ndip, Fraunhofer IZM
Dr.-Ing. Dr.-Ing. habil. Ivan Ndip ist Experte für Antennen und Hochfrequenz-Systeme am Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM in Berlin. Er erläutert, was 6G auszeichnet und in welchen Punkten es sich von der fünften Generation unterscheidet.
© MIKA-fotografie/Berlin - Maik Schulze

Was bedeutet 6G?
Ivan Ndip: 6G ist die sechste Generation der Mobilkommunikation. Bei 5G reden wir über eine Datenrate von bis zu 20 GBit/s und eine Latenz von circa 1 ms. Mit 6G haben wir das ambitionierte Ziel, ein TBit/s und eine Latenz von etwa 100 Mikrosekunden – also das Fünfzigfache der Datenrate und ein Zehntel der Latenz von 5G – zu erreichen.

Worin genau besteht der technische Unterschied zwischen 5G und 6G?
Ndip: Zunächst das Frequenzspektrum: Bis 4G spielte sich die gesamte Mobilkommunikation im Sub-6-GHz-Bereich ab. In 5G befinden wir uns bei 26 GHz, 28 GHz und 39 GHz, also erstmals oberhalb des 6 GHz-Spektrums. Und in 6G beabsichtigen wir in den Terahertz-Bereich zu gehen, voraussichtlich im D-Band (0,11 THz bis 0,17 THz). Darüber hinaus könnte 6G auch VLC (Visible Light Communication) verwenden, einen vielversprechenden optischen Kommunikationsansatz für die Nahbereichskommunikation, bei dem sichtbares Licht zwischen ungefähr 400 und 800 THz verwendet wird. Sowohl 5G als auch 6G werden weiterhin die Frequenzen unter 6 GHz verwendet. Zweitens die Datenrate: Es wird erwartet, dass 5G eine Spitzendatenrate von circa 20 GBit/s erreicht, wobei 6G eine Spitzendatenrate von mehr als 1 TBit/s erwartet. Es gibt auch einen signifikanten Unterschied zwischen der Datenrate pro Benutzer: In 5G werden ungefähr 100 MBit/s erwartet, während für 6G circa 1 GBit/s erwartet wird. Drittens die Latenz: Es wird erwartet, dass 5G eine Latenz von ungefähr 1 ms und höher aufweist. 6G würde weit weniger als eine Millisekunde, vorrausichtlich 100 Mikrosekunden, erreichen. Eine extrem kleine Latenz ist sehr wichtig für Anwendungen wie holografische Kommunikation, VR, AR und Mixed Reality sowie für die medizinische Ferndiagnose und -chirurgie. In diesen medizinischen Anwendungen muss das Netz gleichzeitig eine sehr hohe Zuverlässigkeit, geringe Latenz und extrem hohe Datenraten bieten. Im Gegensatz zu 5G wird 6G so entwickelt, dass alle diese Anforderungen gleichzeitig erfüllt werden. Einen großen Unterschied wird es auch hinsichtlich der Anzahl der angeschlossenen Geräte pro Quadratkilometer ebenso wie der Energieeffizienz geben. Ich glaube jedoch, dass es noch zu früh ist, die meisten dieser Unterschiede zu quantifizieren.

5G soll bereits Echtzeit-Kommunikation ermöglichen, etwa für autonome Fahrzeuge. Wofür werden wir 6G brauchen?
Ndip: Die Spezifikationen von 5G ermöglichen es leider nicht, Infrastrukturen und Netze aufzubauen, die gleichzeitig Hunderte von GBit/s und eine extrem niedrige Latenz gewährleisten. Daher sind wir der Meinung, dass mit 5G wahrscheinlich echtes autonomes Fahren gar nicht möglich sein wird. Dabei wissen wir noch nicht einmal, ob die Spezifikationen, die wir heute für 5G haben, überhaupt erfüllt werden. Die notwendige kollektive oder vernetze Intelligenz existiert noch nicht. 5G ermöglicht uns auch nicht, die Datenraten und Latenz, die hierfür notwendig sind. Deshalb brauchen wir 6G. Andere Anwendungen finden wir in der Telemedizin, zum Beispiel im Bereich der Tele-Chirurgie: Dann müsste der operierende Arzt nicht mehr vor Ort sein. So etwas realisiert man schon mit 5G, doch es gibt viele Einschränkungen durch die maximale Datenrate und Latenz, die mit 5G einhergehen. 6G wird auch die Entwicklungen hochminiaturisierter, tragbarer medizinischer Sensoren, in Kleidung integrierter Sensoren sowie implantierbarer Sensoren ermöglichen, die eine kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter von gesunden und kranken Menschen realisieren können.

Des Weiteren eröffnet sich durch 6G eine Vielzahl von Anwendungen, die den enormen Bandbreitenvorteil des Terahertz-Bandes und neue Methoden der Künstlichen Intelligenz kombinieren. Zum Beispiel im Bereich der digitalen Zwillinge. Aufgrund der extrem hohen Datenraten und der sehr geringen Latenz, die 6G bieten wird, wäre es möglich, die Realität in einer virtuellen Welt ohne zeitliche oder räumliche Einschränkungen mithilfe digitaler Zwillinge zu überwachen, zu simulieren und zu analysieren. Dies wird in vielen Bereichen der Industrie 4.0, der Automobilindustrie, der Medizin, der Bildung und der Unterhaltung erhebliche Auswirkungen haben. Man kann also davon ausgehen, dass 6G Anwendungen ermöglichen wird, die unser Leben, unsere Gesellschaft und die Wirtschaft vollständig und auf eine Weise verändern werden, wie es die Menschheit noch nie zuvor gesehen hat.

Warum beschäftigen wir uns mit 6G, wenn wir 5G noch nicht einmal umgesetzt haben?
Ndip: Zwar wird 6G voraussichtlich erst 2030 eingeführt, aber es gibt noch so viele offene Fragen, zum Beispiel zur Hardwareentwicklung für die Mobilkommunikation über 100 GHz, da erwartet wird, dass das D-Band (0,11 THz bis 0,17 THz) voraussichtlich verwendet wird. Noch nie wurden solche Frequenzen für die Mobilkommunikation verwendet. Deshalb fängt die Forschungs- und Entwicklungs-Community viel früher an, sich mit der Beantwortung der Software- und Hardwarefragen bis zu den Anwendungen zu befassen. Zehn Jahre vor der Markteinführung – das ist typisch. Ungefähr fünf Jahre vor der Einführung werden dann die Spezifikationen festgelegt – dann können Trials folgen. Bevor die Bevölkerung die Vorteile einer neuen Generation genießt, gibt es sehr viel Arbeit dahinter, die von Forschenden umgesetzt wird.

* Vorliegendes, in Auszügen wiedergegebenes Interview führte Olga Putsykina, Fraunhofer IZM.

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