Lange Zeit ging es bei Voice over IP (VoIP) darum, die Funktionen der klassischen TK-Welt vollständig, stabil und sicher nachzubilden. Wenngleich die Themen Ausfall- und Abhörsicherheit bis heute keineswegs vom Tisch sind, zeichnet sich sowohl bei Anwendern als auch Herstellern inzwischen eine neue Sichtweise ab: Der lange beschworene "Zusatznutzen" aus der Integration der digitalisierten Sprach- mit der Datenwelt in einer gemeinsamen IP-Infrastruktur nimmt endlich konkrete Gestalt an. Im Zusammenspiel mit einer neuen Generation von IP-Endgeräten entwickelt sich einfaches Telefonieren zur multimedialen Kommunikation für den umfassenden Informationsaustausch.
Der Siegeszug von VoIP- gegenüber klassischen TK-Systemen hält unvermindert an. Derzeit gehen
etwa 32 Prozent des Umsatzes mit TK-Anlagen auf das Konto von VoIP-Equipment. Dies geht zumindest
aus dem jüngsten quartalsmäßigen "IP Telephony Enterprise Report Q306" hervor, den Dell´Oro Group
im November letzten Jahres veröffentlicht hat. Die Marktforscher erwarten, dass der Umsatzanteil
der VoIP-Technik im Jahr 2007 auf 39 Prozent anwachsen wird. Diese Zahlen sprechen zwar klar für
den Trend zu VoIP – gleichzeitig belegen sie jedoch auch, dass aktuell immer noch rund doppelt so
viele TK-Anlagen in klassischer Technik verkauft werden wie in VoIP-Ausführung. Die VoIP-Player
haben also noch reichlich Raum für Wachstum.
Die Gesamtumsätze über alle Anlagen lagen im dritten Quartal 2006 mit 1,9 Milliarden Dollar
sechs Prozent über den Umsätzen im zweiten Quartal – bei 13,4 Millionen verkauften Anschlüssen.
Insgesamt kommt Dell´Oro für 2006 auf 52 Millionen verkaufte Anschlüsse, was rechnerisch einem
Umsatz von rund 7,4 Milliarden Dollar entspricht. Für 2007 erwarten die Auguren mit 54,7 Millionen
verkauften Anschlüssen kein nennenswertes Gesamtwachstum im Markt – mit den erwähnten
Verschiebungen in Richtung VoIP könnte der Gesamtumsatz sogar leicht rückläufig sein.
Zu den Top-Playern im gesamten TK-Anlagenmarkt gehören nach wie vor Alcatel-Lucent und Siemens,
die ihre Spitzenposition bei den verkauften Anschlüssen in den letzten beiden Jahren zwei Mal
getauscht haben (derzeit liegt wieder Siemens leicht vorne). Auf den Plätzen drei und vier ergibt
sich ein ähnliches Spiel mit Nortel Networks und Avaya – seit dem ersten Quartal 2006 bereichert um
Aastra (Mutter von Aastra-Detewe) als Nummer Fünf. Letztere wird ihre Position aller Voraussicht
nach aber sehr bald an Cisco abgeben müssen – die Kalifornier holen mit Riesenschritten auf. Mit
Ausnahme von Cisco als reinrassiger VoIP-Lieferant kommen die anderen Player aus einer meist
langjährigen TDM-Tradition (Time Division Multiplexing) und haben daher neben neueren IP-TK-Anlagen
auch noch ihre traditionellen reinen TDM- oder hybride TDM-/IP-Systeme im Programm. Unter den
globalen Top Ten bei den großen reinen IP-TK-Herstellern befinden sich neben Cisco, Nortel Networks
und Siemens auch 3Com, Ericsson, Intertel, NEC Philips, Shoretel und Sphere.
Shoretel war bislang auf den amerikanischen Heimatmarkt fokussiert, gehört jedoch zu den
Playern, die aktuell starke Expansionsziele verfolgen. Dazu hat das Unternehmen nach dem
EMEA-Headquarter in Großbritannien kürzlich auch eine Gesellschaft in München eröffnet. Diese
Niederlassung zeichnet für das Geschäft in Deutschland, Österreich und der Schweiz verantwortlich. "
Shoretel gehört in den USA seit langem zu den Big Playern im VoIP-Markt", so Thomas Fischer, eben
ernannter Manager für das deutschsprachige Vertriebsgebiet. "Mit dem Ansatz des Distributed
Computing und den daraus resultierenden Vorteilen hinsichtlich Total Cost of Ownership,
Verfügbarkeit und Skalierbarkeit werden wir kurzfristig auch im europäischen Markt eine adäquate
Position einnehmen. Aktuell verfügt Shoretel in Europa über rund 30 Distributoren und
Channel-Partner. In Deutschland setzen wir auf besonders qualifizierte Premiumpartner."
Im Bereich der reinen VoIP-Lösungen für kleine und mittlere Unternehmen wird die Zahl der
Anbieter schon deutlich größer. Zu den Top-20 zählen hier neben Aastra, Avaya, Cisco und Siemens
Anbieter wie D-Link, Linksys, Snom/4Snewcom, Swyx und Zultys. Noch breiter ist die Angebotspalette
bei den IP-Tischtelefonen. Hier kommen auch Hersteller wie LG Electronics, Mitel, Net2Phone,
Polycom, Samsung und Swissvoice mit ins Spiel. Allerdings ist hier Cisco mit einem Marktanteil von
derzeit etwa 27 Prozent (nach Umsätzen) auffallend dominant.
Das Marktwachstum bei den Herstellern findet im aktuellen Kaufverhalten und in der strategischen
Telekommunikationsplanung seinen Niederschlag. So haben 2006 weltweit bereits 48 Prozent und damit
nahezu doppelt so viele Unternehmen wie 2005 ihre Netzwerke in fast allen oder den meisten
Geschäftsbereichen auf IP migriert. Dies ergab eine im Auftrag von AT&T Ende letzten Jahres
durchgeführte Studie der Economist Intelligence Unit (EIU), für die 395 Führungskräfte befragt
wurden. Zudem betrachtet die große Mehrheit (84 Prozent) der Teilnehmer Netzwerkkonvergenz als
zentrale Aufgabe für das Erreichen ihrer strategischen IT- und Geschäftsziele. Diese Zahl markiert
fast einen "Quantensprung" in der Mentalität, denn im Vorjahr war dieses Thema nur für 45 Prozent
von Bedeutung.
Die Studienergebnisse lassen erkennen, dass sich die Haltung gegenüber IP-basierenden Netzen
geändert hat: Zwar sehen Führungskräfte ein gestrafftes Netzwerkmanagement und Kosteneinsparungen
nach wie vor als Hauptvorteile der Netzwerkkonvergenz an. Für viele Unternehmensvertreter steht
aber nicht mehr nur allein der finanzielle Mehrwert im Vordergrund. Etwa 70 Prozent der Befragten
geben an, dass sich die Zusammenarbeit mit Kunden, Zulieferern und Partnern sowie der Kundenservice
insgesamt verbessert haben. 65 Prozent setzen IP-basierende Netzwerke zum Einrichten und Verwalten
neuer Anwendungen ein.
Ein ähnliches Resümee zieht Swyx aus einer Ad-hoc-Umfrage, die der deutsche VoIP-Anbieter im
Herbst letzten Jahres auf seiner Homepage durchgeführt hat (229 Teilnehmer). Immerhin 24 Prozent
der Teilnehmer profitieren demnach von mehr Funktionen beim Kommunizieren, die erst durch das
Zusammenwachsen von Sprache und Daten in einem Netzwerk realisierbar sind. Herausragende Funktionen
dieser Art seien beispielsweise Einbindung von Telearbeitsplätzen, Outlook-Integration,
intelligentes Call-Management, Interactive Voice Response (IVR), Konferenzserver sowie Voice-Mail-,
E-Mail- und Faxintegration in ein einheitliches System (Unified Messaging).
Ein schönes Beispiel für diesen neuen Typus konvergenter Anwendungen ist etwa die Integration
von Cisco Unified Communications mit Microsoft Dynamics. Diese läuft über den "Unified CRM
Connector 3.0", den Cisco im April vergangenen Jahres auf den Markt gebracht hat. Ziel ist der
schnelle Zugriff auf Kundeninformationen während eines Telefonats. So liefert der Connector Infos
zu aktuellen und vergangenen Käufen: zum Beispiel Vertriebsinformationen, Bestellstatus, die
Kundenbeziehung und Rechnungsinformationen. Für die Nutzung der Funktionen am Arbeitsplatz ist
allerdings ein Cisco-IP-Telefon mit einem XML-fähigen Display erforderlich.
Während die VoIP-Integration in die vorhandene IT nach den "Untersuchungen" der einschlägigen
VoIP-Hersteller offenbar ausschließlich Vorteile bringt, sehen Hersteller aus dem Netzwerk- und
Systemmanagement auch massives Gefahrenpotenzial. So ergab beispielsweise eine kürzlich von
Quocirca im Auftrag von CA durchgeführte Studie, dass IT-Manager in Europa nicht die nötigen
Ressourcen haben, um wichtige Netzwerktechnologien wie MPLS (Multi-Protocol Label Switching) und
VoIP proaktiv zu managen. "Sie haben weder einen schnellen Zugriff auf Informationen über
Netzwerkprobleme und deren Ursachen sowie auf Informationen zu den betroffenen Systemen und
Nutzern, noch können sie die Probleme lösen", heißt es in dem Bericht. Fallen die Netzwerke aus,
bräche auch die gesamte Kommunikation zusammen, was wiederum die Unternehmensziele gefährde.
IT-Manager fühlten sich nicht in der Lage, die Auswirkungen von VoIP-Problemen auf das laufende
Geschäft abzuschätzen. 40 Prozent der 473 Befragten gaben an, dass sie VoIP-Anwendungen nicht
adäquat verwalten können.
Ein weiteres interessantes Ergebnis der Studie: Die durch die mangelhafte Managementintegration
ausgelöste Unsicher- heit in den Unter- nehmen treibt offenbar das Geschäft mit den entsprechenden
Managed Services an: 88 Prozent der befragten Unternehmen nutzen bereits das Angebot von
Managed-Service-Providern oder planen zumindest, dieses aus Gründen der Netzwerksicherheit
anzunehmen. "IP wird zu einem zweischneidigen Schwert", erklärt Bob Tarzey, Service Director bei
Quocirca. "Auf der einen Seite lassen sich die Komponenten besser miteinander verknüpfen, auf der
anderen Seite müssen diese selbst von leistungsfähigen Tools gesichert und verwaltet werden. Nur so
ist gewährleistet, dass den Unternehmen das IP-Management nicht aus den Händen gleitet."
Die Produktivität zu verbessern und Arbeitsabläufe zu straffen zieht sich indes als neues
VoIP-Paradigma auch bis in die Endgeräte. Typische Beispiele dafür sind die kürzlich vorgestellten
IP-Telefone von Siemens, Aastra-Detewe und Snom. Sie alle sind mit ihren großen Displays und
XML-Unterstützung eine klare Kampfansage gegen Cisco. Die "Openstage"-Telefone von Siemens
beispielsweise nutzen das Session Initiation Protocol (SIP) zur Integration der Festnetz-,
Mobilfunk- und IP-Kommunikation und erlauben so Konferenz- und Gesprächsfunktionen wie "
Push-to-Conference", "Desktop Call Management" und präsenzbasierendes Telefonieren. Als
Schnittstelle für Enterprise-Business-Applikationen von Fremdanbietern integriert die neue
Siemens-Telefonfamilie nicht nur XML- sondern auch Java-, HTML- und WML-Technologie (WML: Website
Meta Language). So lassen sich zum Beispiel Java-Anwendungen, die auf einem PC, Mobiltelefon oder
PDA laufen, auf das Openstage-Telefon portieren. Mit HTML lassen sich die Telefone als
Schnittstelle für gehostete Anwendungen wie Stechkarten, Terminkalender oder öffentliche
Telefonverzeichnisse nutzen. Die WML-Unterstützung ist für die Kompatibilität mit Anwendungen
zuständig, die für Mobiltelefone entwickelt wurden – wie etwa der Zugang zu Verkehrsmeldungen.
Auch die neuen Snom-370-SIP-Telefone unterstützen auf ihrem großen, hoch auflösenden grafischen
Display XML. Der Mini-Browser erlaubt nicht nur den Zugang zu eigenen Anwendungen über das Display.
Es lassen sich sowohl zentrale als auch öffentliche Telefonverzeichnisse direkt nutzen oder
News-Ticker sowie andere Informationen anzeigen. Als besonderes Highlight hat Snom ihren neuen
IP-Telefonen VPN-Unterstützung spendiert, die derzeit sicherste Methode, ein Mithören
beziehungsweise Auswerten des IP-Datenstroms zu verhindern.
Drahtlose Telefonie ist eine Errungenschaft, auf die heute kaum jemand in der privaten ebenso
wie in der Geschäftswelt verzichten möchte. VoIP begegnet dieser Herausforderung üblicherweise mit
WLAN-basierenden Technologien. Seit der Verabschiedung des 802.11e-Standards hat WLAN mit den darin
definierten Priorisierungs- und Bandbreitenreservierungsverfahren das entsprechende Basisrüstzeug.
Muss allerdings während einer laufenden Gesprächsverbindung der Access Point gewechselt werden, ist
es meist schon wieder vorbei mit dem adäquaten Service. Das dazu nötige "Fast Roaming", also die
schnelle Übergabe einer WLAN-Session von einem Access Point an den nächsten, bieten nur einzelne
Lösungen auf proprietärer Basis.
Die üblichen Roaming-Mechanismen im WLAN sind für Echtzeitanwendungen zu langsam, zumindest wenn
die Sicherheitsfunktionen eines WLANs gemäß 802.11i aktiviert sind. Spezielle
Protokollerweiterungen sollten in Kürze in Form des 802.11r-Standards den beschleunigten Aufbau und
die Weitergabe der Sicherheitsbeziehung zum nächsten Access Point erlauben.
DECT (Digital Enhanced Cordless Telecommunications) kennt derlei Probleme nicht. In einigen
Ländern wie zum Beispiel Deutschland und Schweiz gehört die Schnurlostelefonie auf dieser
technologischen Basis zum Alltag – und das auf qualitativ vergleichsweise hohem Niveau. Im
Gegensatz zu WLAN ist DECT stark europäisch geprägt, was nicht zuletzt auch dadurch zum Ausdruck
kommt, dass DECT von einem europäischen Normierungsgremium (ETSI) standardisiert wurde. Im Zuge der
Etablierung von VoIP und WLAN schien DECT ausgedient zu haben – die Praxis indes zeigt zumindest in
den klassischen DECT-Verbreitungsgebieten ein völlig anderes Bild. "Viele unserer Kunden fragen
auch in VoIP-Umgebungen explizit nach DECT", so Jörg Tielmann, stellvertretender Leiter der
Entwicklung bei Aastra-Detewe. "Das Zeitfenster für DECT ist wesentlich größer, als wir selbst
ursprünglich angenommen hatten", erläutert er die Situation auf dem Markt. Die Gründe dafür sieht
Tillmann zum einen in den Verzögerungen bei den relevanten WLAN-Standards, zum anderen habe DECT
beziehungsweise "DECToverIP", wie das Unternehmen ihre selbst entwickelte DECT-Technologie nennt,
derzeit in der Telefonie noch entscheidende Vorteile gegenüber WLAN: "Dies gilt unter anderem für
das Handover- und Roaming-Verhalten, die Sprachqualität, für Standby-Zeit und Talktime der
Endgeräte sowie eine flexible Funkfeldplanung. Darüber hinaus müssen bei DECToverIP im Hinblick auf
die IP-Infrastruktur lediglich die technischen Bedingungen für VoIP gegeben sein. WLAN dagegen
erfordert zusätzlich spezielle IP-Switches, die einen schnellen Port-Wechsel von MAC-Adressen
unterstützen."
Mit ihrem DECT-Vorstoß in VoIP-Umgebungen steht Aastra-Detewe keineswegs allein da. Auch andere
europäische und deutsche Hersteller zeigen hier Flagge. Ein weiteres aktuelles Beispiel ist Swyx.
Der VoIP-Anbieter ging kürzlich eine Partnerschaft mit der schweizer Ascom Wireless Solutions ein.
Unter dem Markennamen Swyx bietet Ascom im Rahmen der Kooperation DECT-Handsets und
IP-DECT-Infrastrukturen. Swyx vertreibt wiederum die Lösungen als Teil ihres IP-Telefonieangebots
über ihr Vertriebsnetzwerk in Europa. Wie bei Aastra-Detewe basieren die IP-DECT-Produkte auch bei
Ascom auf dem SIP-Standard.
Für viele recht unerwartet, scheint dem betagten DECT also der Sprung in die VoIP-Welt durchaus
gelungen zu sein. Für wie lange, steht allerdings noch in den Sternen, denn die Entwicklung an der
Wi-Fi-Front verläuft mit Sicherheit dynamischer. Bei Wi-Fi zeichnet sich zudem eine Evolution hin
zu VoIP-fähigen Dual-Mode-Geräten mit WLAN und GSM/UMTS ab. Inzwischen haben fast alle großen
Hersteller wie Motorola, Ericsson, Nokia und viele weitere solche Geräte im Portfolio,
beziehungsweise für die nahe Zukunft angekündigt. Langfristig stehen sogar Tri-Mode-Geräte auf dem
Plan, die zusätzlich noch Wimax integrieren.
Unter dem Strich bleibt festzuhalten, dass VoIP nun offensichtlich in eine höhere Liga
aufgestiegen ist. Das derzeitige Angebot an konvergenten Anwendungen markiert dabei eher erst den
Anfang einer umfangreicheren Entwicklung. Mit Defiziten in Sachen Sicherheit und
Managementintegration bleiben für die Hersteller noch gewichtige Aufgaben zu lösen – bei
Schnurlos-VoIP erweist sich DECT gegenüber Wi-Fi als weitaus stärkerer Gegner als erwartet.