Die angespannte Wirtschaftslage und die steigende Unsicherheit bei Lieferketten zwingt viele Unternehmen dazu, ihre Beschaffungswege und -strukturen zu hinterfragen. Entscheidend für die Unternehmen ist die erfolgreiche Suche nach passenden Lieferanten.
Produktions- und Transportstörungen haben dazu geführt, dass einst etablierte Lieferketten nahezu flächendeckend hinterfragt werden. Der Krieg in der Ukraine verschärft die Situation zusätzlich. Wie groß das Problem ist, zeigt sich an einer aktuellen Umfrage des ifo Instituts1. Um ein repräsentatives Bild von der akuten Lage zu erhalten, hat das Institut 4.000 Unternehmen in Deutschland befragt. Die Ausmaße der Umstrukturierung sind beachtlich. Selbst im Groß- sowie im Einzelhandel gaben 76 Prozent beziehungsweise 63 Prozent der Unternehmen an, dass sie als Reaktion auf Lieferkettenstörungen konkrete Änderungen an ihrer Beschaffungsstrategie vorgenommen haben. Bei Industrieunternehmen lag der Anteil mit über 87 Prozent sogar noch höher.
Diese Ergebnisse überraschten selbst die Experten vom ifo Institut. Schließlich hatten noch im Mai 2021 weniger als die Hälfte der Unternehmen ihre Beschaffungsstrategie hinterfragt. „Dies deutet darauf hin, dass viele Unternehmen die Risiken in der Lieferkette in der Zwischenzeit neu bewerten und in der Folge Anpassungen an ihrer Beschaffungsstrategie vorgenommen haben“, so die Analyse des ifo Instituts.
Störungen in der Lieferkette führen traditionell zu höheren Lagerbeständen. Dass ein Großteil der Unternehmen aufgrund der Lieferkettenstörungen wieder dazu übergegangen ist, ihre Lagerbestände zu erhöhen, war somit zu erwarten. Deutlich überraschender ist das Ergebnis der ifo-Studie, dass mit 65 Prozent fast zwei Drittel aller Unternehmen auf eine verstärkte Diversifizierung von Lieferketten setzen, indem sie die Zulieferbasis durch neue Lieferanten und Bezugsquellen erweitern. „Wir beobachten unterschiedliche Strategien bei kleinen und großen Firmen“, sagt Andreas Baur vom ifo Institut. „Großunternehmen haben mehr Maßnahmen infolge von Lieferkettenstörungen ergriffen als kleine und mittlere Unternehmen. Zudem haben Großunternehmen vor allem Zuliefererstrukturen diversifiziert und überwachen ihre Lieferketten stärker. Kleine und mittlere Unternehmen setzten dagegen eher auf eine verstärkte Lagerhaltung“, berichtet Baur.
Bei genauer Betrachtung sind die Unterschiede allerdings nicht eklatant. Denn gefragt nach den bereits getroffenen Maßnahmen in Reaktion auf Lieferkettenunterbrechungen gaben zwar 72 Prozent der Großunternehmen an, dass sie auf neue Lieferanten setzen. Doch mit 52 Prozent liegt der Anteil bei kleineren und mittleren Unternehmen ebenfalls sehr hoch. „Wir erhalten überraschend viele Anfragen von Unternehmen, die eigentlich über tief und fest verwurzelte Lieferketten verfügen“, sagt Ralf Matthews, Geschäftsführer von Elco Industrie Automation. Das Unternehmen bietet unter anderem Automatisierungslösungen wie Drehgeber, Sensorik, Leitungen und Schnittstellenmodule an, die von vielen verarbeitenden Unternehmen derzeit dringend benötigt werden. „Dass selbst Marktführer und etablierte Traditionsunternehmen nun nach Alternativen suchen, spiegelt die dramatische Situation wider“, so Matthews. „Der Bedarf an zuverlässigen Lieferanten, die nicht nur Standardware liefern, ist offenbar enorm.“
In weiterverarbeitenden Unternehmen spielt Kontinuität in den Lieferketten seit jeher eine entscheidende Rolle. Bevor es zu den weltweiten Engpässen kam, stellten viele Industrieunternehmen diese Kontinuität dadurch sicher, dass sie auf bekannte Vertragspartner setzten. Nun, da viele ehemals etablierte Lieferanten keine Garantien mehr geben können, dass sie Fristen und Lieferumfänge einhalten können, orientieren sich die Unternehmen um und suchen nach neuen Lieferanten. Oberstes Ziel bleibt dabei, die überlebenswichtige Kontinuität zu gewährleisten.
Dieser Trend wird sich auf absehbare Zeit fortsetzen. Denn obwohl viele Unternehmen bereits ihre Beschaffungsstrategien geändert und neue Partner gefunden haben, plant laut ifo Institut jedes zweite Unternehmen in Deutschland, innerhalb der nächsten zwölf Monate zusätzliche Lieferanten zu finden. Der Kampf um Kontinuität geht also weiter.
Tillmann Braun, freier Journalist