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Nachhaltige Digitalisierung – geht das überhaupt?

21. Juli 2021, 13:00 Uhr | Autor: Ralph Hintemann / Redaktion: Diana Künstler
© Artur Szczybylo/123rf

Führt die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit oder ist sie Brandbeschleuniger, der das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele verhindert? Dieser Frage geht Ralph Hintemann vom Borderstep Institut für Innovation und Nachhaltigkeit nach.

Trotz, und auch gerade wegen,  der Corona-Pandemie werden Digitalisierung und Nachhaltigkeit in Medien und Politik noch stärker diskutiert als zur Hochzeit der Friday-for-Future-Demonstrationen. Führt die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu mehr Nachhaltigkeit oder ist sie Brandbeschleuniger, der das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele verhindert? Viele Themen und Fragestellungen der aktuellen Diskussion erinnern sehr an die Zeit zwischen 2007 und 2009, als der Begriff Green IT geprägt wurde. Dennoch ist die Qualität diesmal eine ganz andere.

Ralph Hintemann, Borderstep
Ralph Hintemann ist Gesellschafter und Senior Researcher am Borderstep Institut für Innovation und Nachhaltigkeit.
© Borderstep

Nachhaltigkeitsziele werden inzwischen meist sehr ernst genommen. Viele Unternehmen – gerade im Bereich der Internetwirtschaft – verpflichten sich zum Beispiel freiwillig zur Reduktion der Klimagase oder gar zur Klimaneutralität. Das Know-how zu dem Themenfeld in Wissenschaft und Politik wuchs seit 2007 durch neue Studien und wissenschaftliche Publikationen stetig. Allein am Borderstep Institut entstanden über 100 Veröffentlichungen zum Themenfeld „Digitalisierung und Green IT“. Mit dem Gutachten „Unsere gemeinsame digitale Zukunft“ legte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ein umfangreiches Werk vor. Es analysiert die vielfältigen Bezüge zwischen Digitalisierung und Nachhaltigkeit und skizziert ein Konzept für eine digitalisierte Nachhaltigkeitsgesellschaft. Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags erstellt aktuell ein Gutachten zum Energiebedarf der digitalen Infrastrukturen. Auch die Verbände der Digitalwirtschaft befassen sich intensiv mit der Thematik und legen eigene Studien zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf eine nachhaltige Entwicklung vor. Der wesentlich verbesserte Wissenstand führt dazu, dass das Themenfeld in Politik, Medien, Wirtschaft und Öffentlichkeit mit anderer Qualität diskutiert wird. Ziele und Handlungen von Politik und Unternehmen sind im Vergleich zur Zeit vor 2010 viel konkreter geworden. Das deutsche Umweltministerium präsentierte im Jahr 2020 eine umweltpolitische Digitalagenda. Auch die Europäische Union verknüpft mit ihrem Green Deal die Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

Wir scheinen also auf dem richtigen Weg, die in der Vergangenheit meist klar voneinander getrennten Ziele der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit zusammenzubringen. Dennoch liegt noch ein sehr langer Weg vor uns. Zwar sind sich praktisch alle Akteure einig, dass die Digitalisierung ein wesentlicher Treiber für eine zukunftsfähige Gesellschaft sein und insbesondere dem Klimawandel entgegenwirken kann. Der Digitalverband Bitkom geht davon aus, dass die Digitalisierung fast die Hälfte zu den deutschen Klimazielen beitragen kann. Die Frage, wie eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Digitalisierung erreicht werden kann, ist jedoch noch lange nicht geklärt.

Kein Selbstläufer

Bislang konnte die Digitalisierung die an sie gestellten Erwartungen zur Reduktion von Klimagasen meist nicht erfüllen. Das zeigt das Beispiel Videokonferenzen. Obwohl die Technologie schon lange zur Verfügung steht, hat sich die Zahl der Dienstreisen nicht verringert – im Gegenteil. Zwischen 2004 und 2018 ist die Anzahl der Geschäftsreisen in Deutschland um etwa 30 Prozent angestiegen. Erst durch die Corona-Pandemie konnten sich Videokonferenzen wirklich durchsetzen – und der Effekt scheint auf Dauer angelegt. Man kann davon ausgehen, dass auch nach Corona sich das Volumen an Dienstreisen in Deutschland um etwa ein Drittel reduziert. Braucht es also extremen Druck – wie ihn die weltweite Corona-Pandemie erzeugte – um die Nachhaltigkeitspotenziale der Digitalisierung auch realisieren zu können?

Zumindest kann es nicht schaden, etwas Druck auszuüben. Nachdem die Europäische Kommission das Ziel der Klimaneutralität von Rechenzentren bis zum Jahr 2030 verkündet hat, bewegt sich in diesem Bereich sehr viel. Die Industrie unterstützt das Ziel und hat einen Pakt für klimaneutrale Rechenzentren geschlossen. Damit ist ein Anfang gemacht. Es bleiben aber noch viele Fragen offen: Was ist eigentlich ein klimaneutrales Rechenzentrum? Reicht es aus, einen Ökostromtarif beim Stromanbieter zu wählen? Wie geht man mit dem Thema Kernenergie um? Schaffen wir es künftig, die Abwärme aus Rechenzentren nutzbar zu machen? Und was machen wir mit dem durch die Digitalisierung entstehenden Elektroschrott?

Es gibt noch sehr viel zu tun. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass unsere digitalisierte Welt auch für die nachfolgenden Generationen lebenswert bleibt. 


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