Die Zukunft liegt im Lustgewinn
Die Zukunft liegt im Lustgewinn Alle wollen wissen, wohin die IT geht. Was kommt auf uns zu?



Bisher kamen Amazon, Ebay, Yahoo, Chatten, Klingeltonvielfalt, Wikipedia, Flickr, Offshoring, misstrauisch beäugt und böse kritisiert von vielen, und nun ist Second Life dran’, so eine Art Killerspiel ohne Kämpfer für Ausstellungszwecke oder zum Leben. Zu Hunderttausenden gehen wir dort ein paar Schritte herum, finden es doof und viel zu pixelig und können dafür gleich auch dieses Neue ablehnen. Wenn Ihnen all die Jahre jemand Second Life vorhergesagt hätte, dann hätten die Kritiker stets prustend gelacht und den Überbringer und »seine« Zukunft für unmöglich und schlimm erklärt.
Wohin geht also die IT? Ich glaube, überall hin, wo lustorientierte Leute Spaß haben und Geld dafür ausgeben oder wo neue Kirchen für neue Glaubensrichtungen gebaut werden. Eine andere Regel: Dahin, wo Leute mehr bezahlen als das, wofür sie bezahlen, nüchtern betrachtet, wert ist. Es setzt sich durch, was Vertriebsmitarbeiter, die arrogant sind, trotzdem reißend verkaufen. Und immer das, was mehr Sex verspricht, natürlich. Überall dorthin zieht die rohe, ungefilterte Energie des Kundenwunsches die ungestümen Marktkräfte. Sie hat viel mehr Kraft als die denkerische Planung der IT-Designer. Die verzetteln sich viel zu sehr im theoretisch Wünschbaren oder in widerstreitenden Wenns und Abers. Sie vertrödeln ganze IT-Jahrhunderte etwa mit Gesundheitskartendiskussionen oder Sicherheitsbefürchtungen. Da sind die Lustsucher schon längst eine Technologiestufe weiter. Das Ernste hat deshalb nie den Ersterfolg – und das, worüber viele lachen, kommt ganz bestimmt zuerst. 1999 erschien mein Buch Wild Duck. Darin habe ich fast exakt Second Life vorhergesagt, als es schon eine Firma Avaterra (Terra der Avatare) gab. Und immer noch sagen fast alle herablassend (die, die sich statistisch pro Tag bei 300 Minuten Fernsehen weiterbilden): »Die Leute aus Second Life sollen erstmal im echten Leben zurecht kommen – so wie ich.« Denken Sie sich einfach einen Haushalt mit einem Internet von 10 Gigabit Bandbreite. Dann wird es virtuelle Cirque du Soleils geben, die die Realität weit übertreffen. Virtuelle Sportarenen locken uns in Second Life, virtuelle Vergnügungsparks mit Attraktionen. Wir werden unsere eigenen Avatare für den Abend aufmotzen und virtuell mit vielen Freund-Avataren hingehen – es gibt leider hohe Eintrittspreise. Ich habe bei IBM vorgeschlagen, dass wir guten Kunden vollkommen lebensechte Avatare in SL zu Weihnachten schenken. Wäre das nicht was? Was sagt dazu das Gefühl? Etwa: »Das wäre reizvoll, ja. Ich wäre etwas stolz, so etwas Professionelles zu haben. Das hat nicht jeder, aber ich.«
Technik und Gesellschaft Alle Geräte müssen standardmäßig vernetzt werden. Das wird für die Logistik, für die Telemedizin oder die Fernwartung von allem Möglichen gebraucht. Waschmaschinen werden sagen können, was ihnen fehlt, wie heute schon Autos. Alle etwas besseren Geräte bekommen Betriebssysteme und hängen zu Updates und Fernwartung am Internet (das könnte gleich aus dem Stromkabel kommen). Neue Unternehmen entstehen, die alles verbinden: Inter-Enterprise Services. Die alten Unternehmen (Telekommunikation, Banken, Versicherungen, etc.) lösen sich in diesen Verbindungen auf. In Second Life wird mit Linden-Dollars bezahlt, die man zu wechselnden Kursen in Euro umtauschen kann. Das führt zur Frage: Gibt es bald private Währungen? Und dann: Virtuelle Staaten? So wie wir Mitarbeiter einer Firma sind, könnten wir Staatsbürger irgendwo werden. Wird es dann Zusammenschlüsse unter Staaten geben? Ein Buhlen um Platin-Bürger? Heuschreckenhandel mit Staaten? Betriebssysteme für Staaten? Es wird damit anfangen, dass die Betriebssysteme für Großgeräte zu solchen für ganze Unternehmen anwachsen. Das Bauprinzip des Computers erfasst unser Leben vollständig. Die heute diskutierte Bausteinphilosophie der IT (SOA) ist der gepriesene Anfang.
Der Mensch der Zukunft Stellen Sie sich in diesem Szenario vor, wie viele Menschen sich mit dem Aufbau der virtuellen Welt befassen müssen! Heute schon sind Informatiker knapp. Händeringend werden Menschen gesucht, die sogar verstehen, was im Ganzen programmiert werden soll (»Business-Verständnis«, »Design«, »Look & Feel«, »Kultur«). Keine Fachidioten! Breit gebildete Kommunikationspersönlichkeiten braucht man, alles andere findet nicht mehr in Deutschland statt. Und, auch wenn es politisch unkorrekt ist: Sex ist im Second Life mit taucheranzugähnlichen Zusatzapparaturen virtuell besser und unverfänglicher anonym als in der glitschigen Realität oder auch viel professioneller, je nachdem, wer das virtuelle Cockpit bedient. Bleiben wir dann alle reale Singles, die gegenüber ihren eigenen aufgepeppten Avataren leider nur normal hässlich sind? Sourcen wir das Kinderbekommen an Leihmütter aus? »Moral! Moral!«, werden viele rufen, aber in meiner Jugend war Zusammenwohnen von Paaren Unzucht und Homosexualität ganz verboten. Das zeigt, wie schnell sich auch die Menschen verändern. Was hätte ein mauergewöhnter Deutscher 1965 über die Prognose einer »Love Parade« unter den Linden im Berlin 2000 gesagt? Er hätte sie sich nicht vorstellen können, weil sie den Untergang seiner damaligen Welt bedeutet hätte. Diese Welt ist heute wirklich untergegangen. Und so geschieht es mit unserer heute wieder.
Gunter Dueck ist Chief Technologist, IBM Global Technology Services Germany sowie IBM Distinguished Engineer, Master Inventor und Member of the IBM Academy of Technology