Abschied vom Mainframe

27. Juli 2006, 0:00 Uhr |

Abschied vom Mainframe. Die traditionsreiche Wiener Anker- Versicherung wagte den mutigen Schritt zur Standardsoftware in einer offenen IT-Landschaft. Das ­Großprojekt wurde Anfang dieses Jahres erfolgreich abgeschlossen.

Abschied vom Mainframe

Im Jahr 1998 begann bei der Anker-Versicherung der Weg in eine of­fene IT-Zukunft: Der IBM-Mainframe mit VM/VSE sollte einem wesentlich kostengünstigeren und flexibleren Unix-System weichen. Weiter entschied man sich, Altanwendungen und -systeme sowie Software-Eigenentwicklungen weitgehend durch Standardlösungen zu ersetzen. Hardwareseitig fiel die Wahl auf ­einen Server von Sun Microsystems mit dem Betriebssystem Solaris.
Die Anwendungsarchitektur AFIS (Assekuranz-Finanzinformationssystem) des Münchener Anbieters MSG Systems wurde das neue Kernsystem. Diese Komplettlösung für Versicherungen bildet mittlerweile das gesamte Geschäft der Anker-Versicherung ab ? von der Kunden- und Produktverwaltung über In- und Exkasso sowie Provisionierung bis hin zum Policen-Management.
»Unsere Mitarbeiter mussten früher diverse Altsysteme aufrufen, um einen Geschäftsprozess abzuschließen«, berichtet Wolfgang Gruber, IT-Projektleiter bei der Anker-Versicherung. Die Nachteile liegen auf der Hand: Mehrfacheingaben, unübersichtliche Anwendungen, keine übergreifende Sicht auf Kunden und Produkte.
Heute profitieren rund 300 Außendienstmitarbeiter und 250 Sachbearbeiter im Innendienst von einer einheitlichen, webbasierten Oberfläche, die in einem Fenster alle erforderlichen Funktionen und Daten bereitstellt. Klar definierte Benutzerrechte legen dabei den Aktionsradius des Einzelnen und von Anwendergruppen fest. Die Geschäftsprozesse haben sich durch AFIS maßgeblich in Richtung eines One-Step-Business verändert, wie Gruber bestätigt.

Mehr Kompetenz für ­externen Vertrieb
»Wir verlagern nun mehr Kompetenzen an den externen Vertrieb, da er mit unserer Klientel am besten vertraut ist.« So pflegt dieser jetzt die Kundendaten, stellt den Antrag elektronisch und verantwortet in vielen Fällen alle Phasen bis zu Geschäftsabschluss und Nachbetreuung. Dabei kommt auch UMTS-Breitbandtechnik vor Ort beim Kunden zum Einsatz: Die Versicherungsmitarbeiter können auf ihrem Notebook per Online-Anbindung mehrere Szenarien durchspielen und das beste Angebot ermitteln.
Die internen Sachbearbeiter sind heute eher bei Sonderfällen gefragt, wenn beispielsweise der Außendienst einen höheren Rabatt geben will als dies die Unternehmensvorgabe zulässt. Sie entscheiden meistens über Geschäftskundenverträge, weil dort eine aufwändige Risikoprüfung erforderlich ist, aber auch über arbeitsintensive Anträge von Privatkunden.
Papierwust, Medienbrüche und unübersichtliche, alte »Green-Screen«-Anwendungen sind passé. Durch den Einsatz des Unix-Servers zusammen mit der AFIS-Software ist die Datenqualität maßgeblich gestiegen, unter anderem durch eine automatische Plausibilitätsprüfung der Eingaben. Jetzt profitieren die Mitarbeiter von einer umfassenden Sicht auf jeden Kunden und können maßgeschneiderte Produkte anbieten.
Ein wesentlicher Impulsgeber ist für die Versicherung der grafische Produkt-Designer der Software. Noch vor kurzem mussten die Fachabteilungen für jedes neue Produkt die IT-Abteilung bemühen, die es dann zeitaufwändig kodierte und implementierte.
Nun lassen sich neue Produkte ohne Programmierkenntnisse gestalten oder ändern und vor Freischaltung testen. Einmal freigegeben, stehen sie sofort dem kompletten Vertrieb zur Verfügung. Statt in mehreren Monaten kann die Anker-Versicherung also heute in wenigen Wochen ausgereifte Produkte auf den Markt bringen. »Wer ein Produkt entwirft, sollte es selbst im System umsetzen und prüfen können«, meint dazu Gruber.

Lösung ermöglicht neue Produkte
Zukünftig soll die Branchenlösung auch spartenübergreifende Produkte ermöglichen. Dann lässt sich beispielsweise eine Unfall- mit einer Lebensversicherung bündeln, wobei der Kunde von besseren Konditionen profitieren kann.
Mit dem Abschied von Eigenentwicklung und Mainframe haben sich nicht nur die Aufgaben von Außen- und Innendienst maßgeblich verändert. Die IT-Mitarbeiter fokussieren sich heute auf klassische Rechenzentrumsaufgaben wie Wartung, Customizing und das Einspielen sowie das Testen neuer Versionen und Module. Da die Lösung webbasiert ist, erfordern Neuerungen allerdings keine aufwändige Client-Installation mehr.

Schritt für Schritt zur Datenmigration
Neue Wege mussten auch die Verantwortlichen der Fachabteilungen beschreiten, die ihre Wünsche jetzt nicht mehr informell der internen IT mitteilen. Stattdessen entstehen genaue Anforderungsspezifikationen für den externen Dienstleister. Was anfangs als Mangel an Flexibilität wahrgenommen wurde, gilt heute als Garant für eine saubere, standardisierte Lösung: »Wir gehen wesentlich planvoller vor als früher, weil nur das umgesetzt wird, was wir schriftlich fixieren«, stellt Gruber fest. Damit könne das Unternehmen seine Ressourcen zielgerichtet einsetzen.
Als komplex entpuppte sich die Datenmigration vom Mainframe auf das neue System. »Was sich in welchen Feldern der Datenbanken befindet, wissen bei jahrzehntelang gewachsenen Strukturen häufig nur bestimmte Mitarbeiter, von denen einige nicht mehr im Unternehmen sind«, berichtet Bruno Major, Bereichsleiter bei MSG Systems. Neben der Dokumentation ließ auch die Datenqualität häufig zu wünschen übrig.
Deshalb waren viele Spezialprogramme zu entwickeln, die die Daten vor der Migration auf den Sun-Server in den für die neue Software notwendigen Zustand brachten. Danach galt es, die Daten im neuen System ausführlich zu testen ? ein zeitraubendes Unterfangen. »Diese Aufgabe wird in vielen Migrationsprojekten völlig unterschätzt«, meint Major.

Einsparungen trotz ­Anpassungsaufwandes
Realisiert wurden weiter Schnittstellen zu Office-Anwendungen und dem Dokumentenmanagement von Filenet. Außerdem liefert die Versicherungslösung Daten an das selbst entwickelte Datawarehouse und die Finanzbuchhaltung von SAP. Schließlich waren zahlreiche legis­lative Bestimmungen zu berücksichtigen, zum Beispiel bei der Provisionierung, die Übergabe der Daten ans Finanzamt oder die Kfz-Zulassungsstellen. Deshalb entschied sich die Anker-Ver­sicherung für eine schrittweise Implementierung der einzelnen Geschäftssparten. Seit 2001 arbeiteten die Mitarbeiter parallel auf dem Großrechner mit den alten Anwendungen und auf dem Sun-Server mit der neuen. Erst Anfang 2006 wurde der Mainframe endgültig ausgemustert. Rund 140000 Lebens­ver­siche­rungs­policen und 700000 Policen aus Sach- und Kfz-Versicherung lagern heute auf dem skalierbaren Server, einer Sun Fire V890 mit acht Dual-Core-Prozessoren. Erfreulich ist, dass die Anker-Versicherung erheblich Kosten einspart. So kostet die einmal erworbene Server-Middleware  nur ein Zehntel der Lizenzpreise von Betriebs-, Datenbank- und Messagingsystemen sowie Transaktionsmonitoren für einen Großrechner. Auch die laufenden Kosten sanken: »Bei Wartung und Betrieb sparen wir die Hälfte der Personalkosten, noch mehr bei der Programmierung«, freut sich Gruber. Dazu kommt höhere Effizienz: Die Durchlaufzeiten bei Abschluss eines Neugeschäftes sowie bei der Bearbeitung von Policen sanken leicht, obwohl wesentlich mehr Daten erfasst werden mussten, um die dispositiven Systeme zu versorgen.

Automatische Zuweisung
Die Anker-Versicherung hat mit ihrer neuen Lösung noch viele Pläne. Gemeinsam mit der Muttergruppe Helvetia Patria arbeitet sie an neuen Anforderungen, unter anderem im Kfz-Bereich, die beiden Organisationen zugute kommen. Außerdem ist in den nächsten Monaten der Umstieg auf die aktuelle Version Solaris 10 geplant.
Solaris ermöglicht die Software-Partitionierung in mehr als 8000 Container. Ressourcen werden je nach Bedarf automatisch zugewiesen, was die durchschnittliche Systemauslastung auf 80 Prozent erhöht. Die neuen Diagnosetools ermöglichen Entwicklern außerdem die Suche nach Fehlerquellen und Performance-Problemen in Echtzeit. Je nach Problem lassen sich ­Diagnosen innerhalb von Millisekunden und Minuten erstellen. Welche Funktionen von Solaris 10 die Versicherung gewinnbringend einsetzen kann, wird derzeit im Detail geprüft.
Nachdem das Großprojekt abgeschlossen ist, können die IT-Verantwortlichen erst einmal durchatmen. Trotz diverser Hürden bereut die Versicherung den mutigen Schritt nicht, bestätigt Gruber: »Wir wurden von der gesamten Bran­che beobachtet, die sich in Österreich bei IT-Innovationen eher vorsichtig verhält. Sie könnte jetzt von unserer angepassten AFIS-Lösung sicherlich gut profitieren.«    

Eva Schulz ist freie Journalistin in München.


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