Amerika ist anders
Amerika ist anders Wenn man von der U-Bahn-Station Civic Center an der Market Street, einer zentralen Verkehrsachse von San Francisco, nach Westen geht, kommt man auf einen riesigen Platz, der als Grünanlage gestaltet ist.

Häufig halten sich hier zahlreiche Obdachlose auf. Die materiellen Güter sind in den USA nicht wie in anderen Industriestaaten, sondern vielmehr wie in Schwellenländern verteilt. Der Gini-Koeffizient, eine Kennziffer, mit der Einkommensunterschiede gemessen werden, liegt im reichsten Land der Welt fast bei 0,5 und entspricht dem Mexikos. In Brasilien und China wird dieser Koeffizient auf etwas über 0,5 geschätzt, in Deutschland und in Japan liegt er knapp über 0,3. Wie zur Illustration dieser sozialen Diskrepanzen fällt der Blick von dort auf ein prächtiges und gewaltiges Gebäude: die City Hall, das Rathaus der Stadt. An der Straße davor findet am Nachmittag des 11. November eine kleine Militärparade statt. Viel Publikum hat sich nicht eingefunden. Am 11. November feiern die Amerikaner ihren Veterans Day. Das Datum geht auf das Jahr 1918 zurück: An jenem Tag trat damals der Waffenstillstand in Kraft, mit dem der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Heute ist dieser Tag allen Soldaten gewidmet, die in einem Krieg für die USA gekämpft haben. Am Morgen des 12. November eröffnet Charles Phillips im Moscone Center, dem östlich der Market Street gelegenen modernen Kongresszentrum von San Francisco, den zweiten Tag der Jahreskonferenz seines Unternehmens. Er ist President des im nahe gelegenen Silicon Valley beheimateten Software-Herstellers Oracle. Ehe er mit seinem Fach- und Marketing-Vortrag beginnt, gedenkt er der Veteranen. Er lässt die Tausenden von Zuhörern in dem hallenähnlichen Saal aufstehen, über die Präsentationsleinwände riesige US-Fahnen flattern und dazu in Disco-Lautstärke seine Nationalhymne abspielen. Jedenfalls für ausländische Besucher ein merkwürdiges Schauspiel. Ehe Phillips in die Wirtschaft wechselte, war er Berufssoldat. Bei den US Marines, auch als Ledernacken bekannt, erreichte er den Rang eines Captain. Rund 43000 Besucher aus aller Welt waren zu dieser Veranstaltung gekommen, auch Journalisten zahlreich und aus weiter Ferne angereist. IT-Produkte gehören neben Flugzeugen und Waffen schließlich zu den wichtigsten Exportartikeln der Vereinigten Staaten. Entgegen internationaler Gepflogenheit gaben die Oracle-Manager den Berichterstattern jedoch keine Interviews. Gründe für den befremdlichen Boykott wurden nicht genannt.