Ohne Differenzierung keine Wettbewerbsvorteile
Ohne Differenzierung keine Wettbewerbsvorteile. Besondere Prozesse brauchen auch individuelle Software.

Ohne Differenzierung keine Wettbewerbsvorteile
EDV bedeutete Individualentwicklung, bis Standardsoftware ihren Siegeszug antrat, beginnend mit stark gesetzlich reglementierten Bereichen wie Buchhaltung oder Rechnungsprüfung. Heute heißt die EDV IT, und in vielen Unternehmen löst vorgefertigte ERP-Software Individuallösungen ab, oft in Verbindung mit einem Business Process Reengineering. Die Anwender erhoffen sich niedrigere Anschaffungskosten, eine laufende Weiterentwicklung durch den Hersteller und viel Funktionalität. Reduziert werden soll die Komplexität der entstandenen IT-Landschaften und damit der Aufwand für Wartung und Weiterentwicklung.
Die Standardsoftware brachte einen gewaltigen Schub für die Informationstechnologie und ihre Etablierung als selbstverständliche Infrastruktur von Unternehmen. Aber in einer Zeit, in der die Produktdifferenzierung immer schwieriger wird, werden die Geschäftsprozesse wichtiger. Wenn jedes Unternehmen mit den gleichen Prozessen auf Basis einer einheitlichen ERP-Software tätig ist, woher sollen dann Wettbewerbsvorteile kommen? Ob bessere Langzeitplanung für eine flexiblere und kostengünstigere Produktion oder ein individuellerer und am Kundenwert orientierter Service: differenzierende Leistungen setzen individuelle IT-Lösungen auf dem aktuellen Stand der Technik voraus. Gleiches gilt für den firmenspezifischen Bedarf an IT-Unterstützung, den es in jedem größeren Unternehmen gibt und für den vielfach Behelfslösungen entwickelt wurden. Bei Einführung eines ERP-Systems müssen diese entweder integriert oder durch ein solides System ersetzt werden.
Ihrem Ruf nach steht Standardsoftware zwar für niedrigere IT-Kosten und zudem für ein Ende der Abhängigkeit von externen IT-Dienstleistern. Realistisch ist ein günstigerer Anschaffungspreis aber nur, wenn keine Modifikationen nötig sind oder die Geschäftsprozesse an die Softwarevorgaben angepasst werden. In großen Unternehmen ist das normalerweise jedoch nicht der Fall. Je höher aber der Anpassungs- und Erweiterungsbedarf ist, desto weniger kommt der Vorteil der Standardlösung zum Tragen, nämlich Bewertung in Probeinstallationen sowie kalkulierbare Kosten und Einführung. Kostenmäßig muss zudem der weit geringere Schulungsbedarf bei Individuallösungen bedacht werden. Denn die Fachabteilung hat bei der Entwicklung der Anwendung mitgearbeitet, ihre fachlichen Anforderungen wurden in IT umgesetzt.
Auch beim Aspekt der Abhängigkeit ist Realismus angebracht. Die Abhängigkeit von externen Entwicklern wird bei vorgefertigten Applikationen ersetzt durch die vom Softwarehersteller oder seinen Beratungshäusern sowie von seiner Politik der Releasewechsel und Lizenzkosten, die aus Sicht vieler Anwenderunternehmen ihre Abhängigkeit von der einmal gewählten ERP-, CRM- oder SCM-Software ausnutzt. Eine Entscheidung zwischen Individuallösung oder Standardprodukt muss jedenfalls die Gesamtkosten für den Einzelfall berücksichtigen.
Außerdem gibt es bei der Softwareentwicklung seit längerem Mittel, die die Produktivität steigern, das Problem der Heterogenität von IT-Landschaften lösen und damit die Wettbewerbsfähigkeit von Individualsoftware verbessern können: Die immer stärker werdende Marktposition von .Net und J2EE wird ebenso wie der Vormarsch von XML und Webservices Schnittstellen- und Integrationsprobleme reduzieren. Der optimale Einsatz von modernen Entwicklungsumgebungen oftmals in Verbindung mit Frameworks führt zu deutlichen Produktivitätssteigerungen. Die Realisierung von Individuallösungen nach bewährtem Vorgehen erleichtert zusammen mit Vergleichsdaten aus ähnlichen Projekten sowie Schätzverfahren einen termin- und kostengerechten Projektverlauf.
IT-Dienstleister haben im übrigen längst erkannt, dass nicht mehr Technologien pur gefragt sind, sondern bedienerfreundliche, effiziente und für den praktischen Einsatz optimierte Anwendungen, und dass IT-Experten gute kommunikative Fähigkeiten im Umgang mit Kunden brauchen sowie ergebnisorientiert und unternehmerisch denken müssen. Dazu gehören die sachgerechte Feinjustierung nach einzelnen Meilensteinen und die kontinuierliche Abstimmung zwischen Fachanwendern und Entwicklern.
Das Fazit: Standard- und Individualsoftware haben beide Zukunft, vielfach auch in Kombination. Denn in Großunternehmen summieren sich die Lizenzkosten pro Arbeitsplatz gewaltig, und Software wird in der Praxis an die ausgeklügelten Geschäftsprozesse angepasst, nicht umgekehrt. Auf Individualsoftware für effiziente Geschäftsprozesse zu setzen lohnt sich für Unternehmen weiterhin vor allem dann, wenn es um mögliche Wettbewerbsvorteile geht.
Dr. Alexander Rickert ist Leiter der Kompetenz-Teams der DMC Datenverarbeitungs- und Management-Consulting GmbH in München.