Viel Anschluss unter »115«
Viel Anschluss unter »115« Das Projekt einer bundeseinheitlichen Behördenrufnummer für Bürgeranfragen in ganz Deutschland ist auch technisch nicht ohne. Die eigentlichen Problemstellen sind aber vermutlich organisatorischer Art.


Bundeskanzlerin Angela Merkel hat hohe Ziele. Sie will eine zentrale Hotline für alle Bürger einführen. Unter »115« soll die Hotline deutschlandweit greifen, über Länder-, kommunale und Behördengrenzen hinweg. Inspiriert wurde sie vom angeblich besten Bürger-Service der Welt, »311« in New York. Der Service ist rund um die Uhr, Tag und Nacht, präsent. »Spätestens nach sieben Sekunden hat der Bürger am Telefon einen kompetenten Ansprechpartner«, sagt Lawrence Knafo, Projekt-Manager »311 New York« im Public Sector von Cisco. Für New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg war die Idee »311« mitentscheidend für seinen Wahlerfolg. Für Harald Lemke, hessischer Staatssekretär im Innen- und Finanzministerium, könnte es der Aufstieg zum Bundes-CIO (Chief Information Officer) sein. Er treibt das Projekt einer bundeseinheitlichen Bürger-Hotline unter der Schirmherrschaft des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch voran. Auch das ISPRAT-Institut (Interdisziplinäre Studien zu Politik, Recht, Administration und Technologie) ist eine Initiative von Lemke. Er ist der Vorstandsvorsitzende des Instituts. Im ISPRAT haben sich, neben den Politikern und wissenschaftlichen Mitgliedern, zahlreiche Hersteller und Dienstleister wie Accenture, Alcatel-Lucent (über Genesys), Cisco, Deutsche Telekom, HP, IBM, McKinsey, Microsoft, SAP und T-Systems als kooperative Mitglieder versammelt. Sie alle versprechen sich mit der Instituts-Eintrittsgebühr von jeweils 100000 Euro, für mittelständische Firmen von 25000 Euro, von »115« ein lukratives Geschäft.
Risiko-Potenziale
Lemke dämpft voreilige Geschäftserwartungen. »115 ist ein komplexes Projekt. Dafür müssen unterschiedliche Technologien, Behördenstrukturen und das Personal unter einen Hut gebracht werden.« Das gehe nur Schritt für Schritt, also langsam. Der Staatssekretär setzt für das Rhein-Main-Gebiet als Pioniergebiet von »115« ein Jahr an, um geeignete Techniken zu erproben. Dazu zählen für IP-Telefonie ausgelegte Netzwerkkomponenten, Call-Center, die zu einem virtuellen Kontakt-Center vernetzt werden können, sowie Lösungen zur Integration von Wissensdatenbanken und Behördenanwendungen. Danach geht Lemke von einem weiteren Jahr aus, um erste Städte und Kommunen im Rhein-Main-Gebiet von der zentralen Nummer zu überzeugen. Wie lange es dauern wird, bis »115« deutschlandweit greift? Der Staatssekretär zuckt mit den Achseln. Michael Ganser, Deutschland-Geschäftsführer von Cisco, sieht in der technischen Realisierung von »115« weniger ein Problem. Er verweist dazu auf eine interne Cisco-Erhebung des Geschäftsbereichs Öffentlicher Sektor. Danach liegt das Risikopotenzial bei einer heterogenen Netzinfrastruktur lediglich bei 7 Prozent. Für die Vernetzung unterschiedlicher Call-Center zu einem virtuellen Kontakt-Center wurde ein Risikopotenzial von 18 Prozent ermittelt. Für die Prozesseinbindung von Wissensdatenbanken und Verwaltungsanwendungen in die lokalen Call-Center wird es auf 20 Prozent beziffert. Die eigentlichen Knackpunkte für die neue bundeseinheitliche Rufnummer, so Ganser, seien die bisherigen Organisationsstrukturen und Arbeitsweisen der Behördenmitarbeiter. »Beide müssen auf „115” und den Einsatz der neuen Techniken erst noch eingestimmt werden«. Die Cisco-Erhebung weist dafür ein Risikopotenzial von 49 Prozent aus. Im ISPRAT spricht man deshalb von »der größten Revolution in deutschen Amtsstuben seit der Einführung des Computers«. Schließlich soll die neue bundeseinheitliche Rufnummer per Prozessintegration auch eGovernment allgemein zusätzlichen Schub verleihen. »Wenn Bund, Länder und Kommunen online besser zusammenarbeiten, wird das ein großer Vorteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland sein«, baut auch Bundeskanzlerin Merkel auf mehr Verwaltungselan über die Initiative »115«.
Herstellermonopole in New York
In New York ist seit der Einführung von »311« im Jahr 2003 das Anrufaufkommen um 150 Prozent von 6 auf 15 Millionen empor geschnellt. Mit der zentralen Bürger-Hotline wurden 40 Behörden-Call-Center konsolidiert und zu einem logischen Kontakt-Center virtualisiert. Die Notrufzentralen, die heute Teil von »311« sind, sind darin nicht eingerechnet. »Der rege Zuspruch der New Yorker Bürger und die Einsparungen durch Konsolidierung sprechen für sich«, konstatiert Ganser. »311« hat sich für New York schon heute in puncto besseres Behördenimage gelohnt und vor allem auch bezahlt gemacht. Thomas Friedrich, Senior Account Manager für den öffentlichen Bereich bei Genesys, einer Tochter von Alcatel-Lucent, sieht die größte Herausforderung darin, die Erfahrungen von New York eins-zu-eins auf ein ganzes Land zu übertragen, das dazu noch föderal organisiert ist. »New York ging Anpassungs- und Integrationsproblemen bei der Call-Center-Vernetzung dadurch aus dem Weg, dass man sich für ein virtuelles Kontakt-Center eines einzigen Herstellers, nämlich Genesys, entschieden hat. Darüber wird die gesamte logische Anrufsteuerung der Metropole abgewickelt.« Einheitlichkeit ist in New York auch auf den anderen technischen Ebenen angesagt. Anscheinend haben die beteiligten Firmen da so zusagen ganze Lobbyarbeit geleistet. Kunden-/Bürgerverwaltung, die Integration von Wissensdatenbanken und ersten Verwaltungsanwendungen wurden durchgehend über Siebel umgesetzt. Cisco Systems steuert, ebenfalls durchgehend, die komplette konvergente Netzinfrastruktur bei. Das Produkt des homogenen Gesamtaufbaus: Statt vorher Behördennummern über elf Seiten im New Yorker Telefonbuch gibt es heute nur noch eine zentrale Bürger-Hotline – und das rund um die Uhr, Sonn- und Feiertage eingeschlossen. Was die Durchsetzung der bundeseinheitlichen Behördennummer in Deutschland betrifft, setzt Staatssekretär und ISPRAT-Vorstandsvorsitzender Lemke auf die Impulse durch die Sprach-/Daten-/Video-Integration und vor allem auf die Initiative der Bürger. »Von ihnen könnte ein gewisser Handlungsdruck ausgehen, wenn bestimmte Städte oder Kommunen in „115” einsteigen, die anderen sich aber vorerst dem zentralen Bürger-Service verschließen sollten.« Er macht sich indes keine Illusionen. »Nur eine Integration und Vorgehensweise mit Bedacht hilft weiter.« Denn Techniken, Organisationsanpassungen und Veränderungen im persönlichen Arbeitsumfeld könnten im Behördenbereich nur schrittweise vorangebracht werden. Erst ein Teil der Technik mit allen organisatorischen und personellen Anpassungen, danach ein weiterer Teil, darauf aufbauend der nächste, ist dementsprechend seine Strategie. Weil der Veränderungsbedarf in den Behörden mit jedem technischen Schritt – von der konvergenten Netzinfrastruktur über das virtuelle Kontakt-Center bis hin zur Datenbank- und Anwendungsintegration – immer größer ausfällt, hofft Lemke unter »115« auf eine hohe direkte Beantwortungsquote zwischen 40 und 80 Prozent. Schnelle Content-Abfragen über Datenbanken und Ad-hoc-Nachfragen in elektronischen Verzeichnissen sollen der Schlüssel dazu sein. Außerdem sollen die Kontakt-Center-Mitarbeiter die Rat suchenden Bürger nicht gleich weiter verbinden, sondern sie aufmerksam anhören, danach für sie offline alle notwendigen Informationen zusammentragen, die zur Klärung notwendig sind. »Diese Strategie und Verhaltensanweisungen an das Kontakt-Center-Personal kann für „115” nicht mehr als eine Starthilfe sein«, ist Andreas von Meyer zu Knonow, Vice President Global Product Solutions bei Avaya und Mitglied im Hauptvorstand der Bitkom, überzeugt. »Denn nur wenn alle Call-Center logisch zu einem übergreifenden virtuellen Kontakt-Center zusammengefasst werden können, werden die Bürger von der bundeseinheitlichen Behördennummer und einem guten Service profitieren. Und nur wenn darin über Computer-Telefonie-Integration die Datenbanken und Verwaltungsanwendungen der jeweiligen Behörde oder Kommune eingebunden sind, wird die Einheitsnummer insgesamt ihren Nutzen wirklich entfalten können.« Beides, so von Meyer zu Knonow, werde letztlich entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg des Bürgertelefons sein.
Alle Kommunikationskanäle einbeziehen
Für die Virtualisierung der verschiedenen Call-Center zu einem herstellerübergreifenden Kontakt-Center sieht er zwei Möglichkeiten: »Entweder wird die dafür notwendige Steuerungssoftware über die weitgehende Einhaltung von Standards so ausgebaut, dass der logische Gesamtverbund harmoniert. Oder ein Service Provider wird künftig im Hintergrund alle notwendigen Konvertierungen zwischen den Call-Centern unterschiedlicher Hersteller übernehmen müssen.« »In jedem Fall«, schätzt Thomas Friedrich von Genesys ein, »ist die bis in die Kommunen hinein anstehende Applikations-Integrationsarbeit erfolgskritisch.« Er verweist dabei auf die große Anzahl an selbst entwickelten Verwaltungsprogrammen in den Behörden. »Außerdem«, so Friedrich, »müssen in eine bundeseinheitliche Behördennummer auch das Internet und der E-Mail-Austausch als gleichberechtigte Kommunikationskanäle einbezogen werden.«
Hadi Stiel ist freier Journalist in Bad Camberg.