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Compliance neu gedacht

Certivity: Von der Vorschriftenflut zum Wettbewerbsvorteil

Ob Automotive, Luftfahrt oder MedTech: ohne Compliance kein Marktzugang. Das Münchner Start-up Certivity hat eine Plattform entwickelt, die regulatorische Komplexität reduziert und Unternehmen global absichert.

Autor:Diana Künstler • 2.9.2025 • ca. 4:35 Min

Gründer Certivity
Die Gründer von Certivity (v.l.n.r.): Tim Gruber (CFO), Sami Vaaraniemi (CSO), Nico Wägerle (CEO), Jörg Ulmer (CTO), Bogdan Bereczki (CPO)
© Certivity

Technische Compliance ist für produzierende Unternehmen längst kein Randthema mehr: Täglich entstehen neue Vorschriften, Normen und Sicherheitsrichtlinien. Ingenieure verbringen nach Certivity-Angaben bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit damit, sich durch diesen Dschungel zu kämpfen. Fehler können Rückrufe, Haftungsrisiken oder gar den Marktausschluss nach sich ziehen. Wie komplex die Lage ist, verdeutlicht Certivity-CEO und Mitgründer Nico Wägerle mit einem anschaulichen Bild: „Man muss sich vorstellen, man backt einen Kuchen, während sich das Rezept ständig verändert. Dabei liegt jedes Teigrezept in einer anderen Sprache vor. Genau diese Dynamik erleben Ingenieurinnen und Ingenieure im Alltag, wenn sie Produkte entwickeln.“

Genau hier setzt das Münchner Start-up Certivity an. „Wir lösen die Komplexität, indem wir regulatorische Anforderungen digital erfassen, versionieren und in die Engineering-Prozesse integrieren“, erklärt Nico Wägerle. Statt manueller Excel-Listen bietet Certivity eine KI-gestützte Plattform, die Änderungen automatisch erkennt und in bestehende Tools einspeist. Das Ergebnis: Compliance wird nicht nur beherrschbar, sondern beschleunigt auch den Markteintritt neuer Produkte.

Nico Wägerle, Certivity
Nico Wägerle, Certivity: „Man backt einen Kuchen, während sich das Rezept ständig verändert. Genau so fühlt sich technische Compliance heute an.“
© Certivity

Investment mit Signalwirkung

Dass Certivity mit diesem Ansatz ein enormes Problem adressiert, blieb Investoren nicht verborgen. In der Series A sammelte das Start-up 13,3 Millionen Euro ein. Angeführt wird die Runde von UVC Partners, gemeinsam mit Earlybird X, Almaz Capital, HTGF und Plug and Play. Amanda Birkenholz, Principal bei UVC Partners, erläutert die Entscheidung: „Regulatorik ist geschäftskritisch. Wer Anforderungen nicht erfüllt, bringt keine Produkte in den Markt und riskiert Rückrufe mit Milliardenfolgen. Für uns war schnell klar, dass Certivity ein zentrales Problem löst, das quer über viele Industrien hinweg relevant ist.“

Amanda Birkenholz, Principal bei UVC Partners: „Wir haben uns intensiv den Wettbewerb angesehen und keine Firma gefunden, die Regulatorik so fundiert und nutzerfreundlich löst wie Certivity.“

UVC kennt Certivity bereits seit den frühen Tagen im UnternehmerTUM-Ökosystem, als das Start-up im „Xpreneurs“-Programm und im Legal Tech Colab aktiv war. Besonders überzeugt hat neben dem Team die klare Differenzierung. „Wir haben uns den Markt sehr genau angesehen und keine Firma gefunden, die auch nur ansatzweise leisten kann, was Certivity heute bietet. Die Lösung ist weder oberflächlich replizierbar noch trivial – hier steckt tiefes Know-how im Team“, betont Birkenholz. Für Certivity war neben Kapital auch das Netzwerk entscheidend. Wägerle unterstreicht: „Wir haben in der Vergangenheit bei Certivity mit vermutlich über 150 Investoren gesprochen. Aber das Value Creation Team von UVC Partners ist einzigartig. Es liefert messbare Ergebnisse und hat uns überzeugt, dass sie mehr als Kapital einbringen.“

Technologie als Differenzierung

Während klassische Compliance-Tools oft auf statischen Dokumentensammlungen oder PDF-Datenbanken basieren, setzt Certivity auf ein eigenes Graph-Datenmodell. Dokumente werden in Paragraphen segmentiert, klassifiziert und miteinander verknüpft. Referenzen auf andere Normen werden automatisch erkannt, Änderungen versioniert und in Echtzeit in die Engineering-Anforderungen der Kunden eingespeist. „Unsere Fähigkeit, regulatorische Texte intelligent zu zerlegen, nach Anforderungen, Testspezifikationen oder Definitionen zu klassifizieren und sie in bestehende Tools zu überführen, ist einzigartig“, erklärt Wägerle. Damit gelingt es erstmals, eine Traceability zwischen abstrakten Vorschriften und konkreten Entwicklungsschritten herzustellen.

Certivity Mockup

Die Technologie ist nicht auf Regulatorik im engeren Sinn beschränkt, jedoch hat Certivity derzeit noch ihren Schwerpunkt dort mit bereits namhaften Kunden wie Aptiv, Iveco, Daimler Trucks oder dem TüV Rheinland. Kunden setzten die Plattform allerdings auch für interne Standards oder Spezifikationen ein. Aktuell bereitet Certivity sogar ein spannendes Projekt im Energiesektor vor, dass die Regulierung der Abtragung nuklearer Abfälle digital abbilden will. „Wir haben drei Jahre gebraucht, um diese Fähigkeit robust zu entwickeln. Jetzt können wir sie auf immer neue Use Cases übertragen“, sagt Wägerle.

Branchenvielfalt und globale Relevanz

Aktuell ist Certivity vor allem im Automotive-Sektor stark vertreten. Doch die Anwendungsfelder sind vielfältig: Luftfahrt, Bahn, Maschinenbau, MedTech oder sogar die Analyse von Nuklearabfall-Prozessen. Ein französischer Betreiber wandte sich jüngst an das Start-up, weil er in Vorschriften zu ersticken drohte. „Überall dort, wo komplexe Dokumentation und strenge Vorschriften auf Ingenieursprozesse treffen, können wir Mehrwert stiften“, so Wägerle.

Amanda Birkenholz, UVC Partners
Amanda Birkenholz, UVC Partners: „Regulatorik nimmt nicht ab, sie wächst stetig. Certivity bietet hier einen geschäftskritischen Hebel.“
© UVC Partners

Das aktuelle Beispiel Volkswagen ID. Buzz in den USA zeigt, wie teuer Regelverstöße werden können: Wegen einer fehlerhaften Interpretation von Sitzplatzbreiten mussten über 5.000 Fahrzeuge zurückgerufen werden – vermutlich mit Kosten im zwei- bis dreistelligen Millionenbereich. „Solche Fälle verdeutlichen, wie entscheidend es ist, regulatorische Details frühzeitig korrekt zu erfassen“, sagt Wägerle.

Nico Wägerle, CEO & Co-Founder von Certivity: „Ein kleiner Interpretationsfehler kann Millionen kosten. Unsere Plattform verhindert solche Rückrufkatastrophen.“

Auch der Blick nach Europa macht das Thema brisant: Von der Cybersecurity-Richtlinie DORA über CSRD bis zu branchenspezifischen Sicherheitsnormen nimmt die Regulierungsdichte kontinuierlich zu. „Der Trend geht klar in Richtung mehr statt weniger Regeln“, betont Birkenholz. „Es entstehen immer neue Vorschriften, die dauerhaft Bestand haben. Wer da nicht Schritt hält, bleibt zurück.“

Wachstum mit Struktur

Mit dem neuen Kapital will Certivity sein Produkt weiterentwickeln und den internationalen Rollout beschleunigen. Die Roadmap umfasst drei Stoßrichtungen:

  1. globale Datenerweiterung von aktuell 50 auf rund 150 Länder,
  2. Ausbau der KI-gestützten Informationsanalyse
  3. sowie stärkere Integration in Engineering-Prozesse.

Gleichzeitig wird der Aufbau einer skalierbaren Go-to-Market-Organisation zum zentralen Thema.

Das Team zählt inzwischen mehr als 60 Mitarbeitende. Während die Produktentwicklung im Fokus bleibt, steht für Wägerle der nächste Meilenstein an: der Übergang vom „Founder-Led Sales“ (Anm. d. Red.: Vertrieb durch die Gründer selbst) zu einer skalierbaren Vertriebsorganisation. „Kein Vertriebler verkauft so leidenschaftlich wie der Gründer selbst“, weiß Birkenholz. „Aber ab einer bestimmten Phase braucht es Strukturen, Prozesse und ein Team, das den Drive multipliziert.“ Wägerle sucht deshalb einen erfahrenen Head of Sales, um die internationale Expansion planbar voranzutreiben. Schon heute stammen rund 70 Prozent der Kunden aus dem Ausland, die USA sind nach Deutschland der wichtigste Markt.

Wägerle selbst kommt ursprünglich aus der Rechtsabteilung von Mercedes-Benz als Hersteller und auch von Technologiefirmen wie Argo AI, wo er hautnah erlebte, wie herausfordernd, komplex aber auch ineffizient regulatorische Prozesse laufen. Doch der Wunsch zu gründen war älter. In seinem Heimatort beobachtete er, wie aus einem kleinen Elektrogeschäft ein Hidden Champion im Designleuchtenbau wurde. In der Nachbarschaft entstand der Software-Gigant TeamViewer. „Diese Vorbilder haben mich geprägt. Ich habe gesehen, dass man mit einer Idee globale Wirkung entfalten kann“, erzählt er. Sein Ziel ist klar: Certivity soll zum internationalen Standard für technische Produkt-Compliance werden. „Wir haben heute drei Jahre Vorsprung vor dem Markt. Diesen Burggraben wollen wir kontinuierlich ausbauen.“