Wo steht China? Wer an Offshoring denkt, stellt sich wahrscheinlich die oben genannte Frage. Wie sehen die aktuellen Gegebenheiten aus? Das zeigen neue Bücher oder der aktuelle China-Report der amerikanischen InformationWeek, den wir hier auszugsweise bringen.
Chinas Wirtschaft wächst immer noch um zehn Prozent pro Jahr, sein IT-Markt erreicht in diesem Jahr ein Volumen von 35 Milliarden Dollar. Die IT-Ausgaben in Asien sollen 2006 um neun Prozent auf 116,7 Milliarden gewachsen sein. Die chinesischen Patentanmeldungen haben sich zwischen 2002 und 2004 verdoppelt. Doch Erleben ist eindrucksvoller als alle Zahlen. Deshalb folgt hier ein kurzer, aktueller Blick auf die chinesische IT-Realität in Form eines Tagebuchs, das von Aaron Ricadela, einem Redakteur der amerikanischen InformationWeek während einer aktuellen China-Reise geschrieben wurde. Auch wenn es hauptsächlich aus amerikanischer Perspektive geschrieben ist, können Europäer daraus ihre Schlüsse ziehen.
Sonntag, 5. November
Peking. Während China sich mit Rohstoffen unter anderem in Afrika versorgen möchte und deswegen dort investiert, orientiert man sich beim Thema IT stärker in Richtung USA, was nicht weniger kompliziert ist. Ein Beispiel ist der Datenbank- und Middleware-Spezialist Sybase. Dessen Geschäft in China wächst jährlich um zehn bis 15 Prozent. Kunden sind multinationale Unternehmen, staatliche Banken, Ölfirmen und Telekommunikationsunternehmen. »Mit der Zeit werden auch kleine Firmen mehr in IT investieren«, sagt CEO John Chen. Gegenwärtig jedoch wäre eine Erschließung dieses Kundenkreises zu teuer. Es gebe keinen Schutz für geistiges Eigentum und es sei schwer, an sein Geld zu kommen – chinesische Kunden müssen bei Sybase derzeit bar zahlen. Dazu kommt, dass Peking chinesische Standards entwickelt, die Ausländern den Wettbewerb erschweren könnten. Die örtlichen Fachkräfte sprechen oft nur schlecht Englisch, insbesondere verglichen mit ihren Pendants in der indischen Outsourcing-Industrie. Außerdem fehlt ihnen Unternehmensgeist oder der Drang, ihre Ideen nach vorn zu bringen.
Montag, 6. November
Peking, Kerry Center Hotel. Yun ist der chinesisch-amerikanische CEO von Telegent Systems. Der Startup aus Silicon Valley produziert Fernsehempfangschips für Mobiltelefone. Die ersten Telefone mit diesen Chips kommen in China derzeit auf den Markt. Yun kam 1985 nach Kalifornien und graduierte in Berkeley, wo er blieb. Telegent ist sein drittes Startup-Unternehmen. Seine Zielgruppe sind die 400 Millionen Mobilkunden Chinas. Die meisten von ihnen kaufen ihre Telefone direkt. Die mit Venture Capital finanzierte Firma Telegent beschäftigt heute zehn Mitarbeiter in Shanghai und 40 in Silicon Valley. In den letzten Jahren entwickelte sie ihren Chip, der einen TV-Tuner, eine Antenne und signalverarbeitende Firmware integriert. Die ersten Exemplare wurden gerade an Kunden ausgeliefert. Der Chip kostet etwa zehn Dollar. Damit können mobile Anwender fernsehen, ohne ihre Batterie schnell zu erschöpfen. Der Chip könnte den Verkaufspreis von Mobiltelefonen um sechzig Dollar in die Höhe treiben. Allerdings steht dem Erfolg von Telegent eine Patentauseinandersetzung um den OFDM-Standard (Orthogonal Frequency Division Multiplexing) entgegen, der Bandbreite in schmalere Segmente aufteilt. Qualcomm sieht in OFDM ein Subset der Übertragungstechnik CDMA, für die das Unternehmen Patente hält. Intel und andere sagen, das sei falsch. Wie der Streit ausgeht, ist ungewiss. Einer, der sich intensiv mit Amerikas Wettbewerbsposition gegenüber China befasst, ist Reed Hundt. Er arbeitete unter Bill Clinton für die US-amerikanische Regulierungsbehörde FCC. In seinem aktuellen Buch (In Chinas Shadow, Yale University Press) argumentiert Hundt, dass die USA eine neue Politik brauchen, um gegenüber China wettbewerbsfähig zu bleiben. Für Europa dürfte wohl dasselbe gelten. Die Auseinandersetzung mit China wird nach Hundts Auffassung wesentlich schwieriger als der Wettbewerb mit Japan. Denn China hat einen großen Heimatmarkt, in den es seine Güter verkaufen kann. Japan dagegen musste exportieren. Dazu kommt, dass sich der Schwerpunkt des Wirtschaftens insgesamt von der Produktion auf Dienstleistung verschoben hat: Die besten Jobs sind heute bei Google, nicht mehr in der Fertigungsindustrie. Chinesische Stars wie Cisco-Rivale Huawei haben geringere Transportkosten als beispielsweise Japan, weshalb man nicht davon ausgehen darf, dass chinesische Firmen im Ausland sehr schnell eigene Fabriken errichten. Reichlich akademisch gebildete Fachkräfte, laxe Kreditbedingungen, niedrige Steuern, eine schwache Umweltgesetzgebung und subventionierte Wohnungen und Transportsysteme für die Arbeitnehmer sind weitere Wettbewerbsvorteile Chinas. Im Technologiesektor pusht China seine eigenen Standards in den Mobilnetzen der nächsten Generation und anderen Gebieten. Den USA empfiehlt Hundt, Märkte wie Energie und Gesundheit für Startups zu öffnen und weniger restriktivere, kooperativere Forschungsmethoden mit weniger Patenten und demzufolge auch weniger Rechtsstreitigkeiten anzustreben. Empfehlungen für Europa gibt er keine – das tun andere wie Gabor Steingart (siehe Kasten Seite 24).
Dienstag, 7. November
HP Forschungslaboratorien Peking. HP möchte seinen bemerkenswerten Wiederaufstieg mit Hilfe von teilweise in China entwickelter Technologie beschleunigen. Ein Beispiel ist Neoview: CIO Randy Mott hat die Entwicklung eines riesigen Data Warehouse zu einer Top-Initiative erklärt. Mittlerweile wird die Plattform auch an externe Kunden verkauft. Neoview basiert auf Technologie von Tandem Computers, dessen Überreste HP zusammen mit Compaq einkaufte. Rund 20 Ingenieure gehören zum Data-Warehouse-Team – ungefähr ein Dutzend in der HP-Zentrale in Palo Alto und sechs in Peking. Liu Wie, Forschungsdirektor in Peking, berichtet, das Team arbeite mit Top-Spezialisten chinesischer Universitäten an Software, die riesige Datenmengen in Stunden statt Tagen durch die IT-Systeme bewegen könne und Arbeitslasten gleichmäßiger unter mehreren Rechnern verteilt. Ein Testfeld für diese Lösungen ist das staatliche Mobilfunkunternehmen China Mobile, das damit seine Billing- und Multimedia-Daten verarbeitet. Warren Greving, ein Programmdirektor der HP Labs in Peking, konstatiert, dass die dortigen Entwickler in großen Linien denken: In einem Land mit 34 Städten über einer Million Einwohner bilden sich schnell große Datensets. »Überall, wo man hier hinkommt, ist Skalierbarkeit ein wichtiges Thema«, sagt er.
Mittwoch, 8. November
Peking, PCCW Center. Asiatische IT-Spezialisten mögen verglichen mit dem Westen noch so günstig sein, es gibt versteckte Kosten, die das Budget ruinieren. Das sagt Foong Tai, Nordasien-CIO bei Johnson & Johnson und gleichzeitig bei Xian-Janssen, der chinesischen Tochterfirma des Unternehmens. »Uns geht es wie allen Unternehmen«, sagt er. Überall gibt es den Zwang, die IT-Kosten durch Konsolidierung von Datenzentren zu reduzieren und gleichzeitig die Produktivität oben zu halten. Foong kam nach Jahren in Australien 1988 nach China und kennt die Vor- und Nachteile verschiedener asiatischer Standorte aus der CIO-Perspektive. In Indien steigen die Kosten und um die Talente findet ein rabiater Kampf statt. Die Philippinen sind zwar billig, aber auch instabil. Japan ist viel zu teuer und der dortige Markt ist groß genug, sodass ihn viele Unternehmen als separate Einheit behandeln. Bleibt China, voller Wachstum und technischem Talent. »Aber es ist ein sozialistischer Staat«, sagt Foong. Und die Kosten sind nicht so niedrig wie es zuerst scheint. Vernetzung kostet mehr als in den USA, da es an verlegtem Kabel fehlt. »Viele amerikanische Firmen betrachten Bandbreite als selbstverständlich«, weiß er. Elektrische Energie steht manchmal nur unregelmäßig zur Verfügung. Und China erhebt eine 17prozentige Mehrwertsteuer auf Kapital- und Konsumgüter. Andererseits sind IT-Kräfte relativ günstig verfügbar. Ein Techniker mit drei Jahren Erfahrung verdient 20000 bis 40000 Dollar pro Jahr. Dafür arbeitet er sechs 12-Stunden-Tage, ohne dafür Überstundenentgelt zu verlangen. Johnson & Johnson hat kürzlich einige Datenzentrums-Kapazitäten an China Netcom und HP in China ausgelagert. Ein Call Center wurde in die Hafenstadt Dalian verlegt. Diese östliche Lage macht es zum Zentrum für die Anrufer mit japanischer, koreanischer und englischer Sprache. IBM, Dell und SAP haben dort ebenfalls Zentren. AMD-Büro. Trotz aller Feindschaft im Heimatmarkt: In China teilen sich Intel und AMD ein Bürogebäude. AMD zog erst im vergangen Jahr in eine glitzernde neue Zentrale, von der aus man einen tollen Rundblick über Peking genießt. Der Rivale sitzt gleich nebenan, in einem Gebäudepaar, das mit dem von AMD über eine Fußgängerbrücke verbunden ist. AMDs Chinageschäft nimmt jährlich mehr als 100 Prozent zu, sagt Thomas Tong, einer der Manager. In China versucht AMD, sein Produktspektrum zu verbreitern. Dort hat der Hersteller 30 Prozent des Prozessormarkts für Desktop-PCs, bei den Servern sind es nur sieben Prozent. Nun stellt AMD Vertriebspersonal ein und hat gerade eine Vereinbarung mit Dell bekanntgegeben, nach der Dell in China Server mit Opteron-Chips verkauft. Baija Dayuan Restaurant. Liu Wei, HPs Forschungsdirektor, ist nach zehn Jahren in Colorado drei Jahre zurück in China. Das ist nicht ungewöhnlich – auch andere erfahrene Technologiespezialisten aus China kommen zurück in die Heimat, wo sie manchmal stürmische Entwicklungen anstoßen. Ein Beispiel: Im Juli 2005 gewann Google Microsofts Manager Kai-Fu Lee dafür, das Pekinger Google-Büro aufzubauen. Microsoft klagte gegen Google und Lee, wodurch der Krieg um die Talente zum ersten Mal in die Öffentlichkeit drang. Vor zwei Jahren zog Steve Chen, bekannt noch aus seinen Zeiten beim Supercomputerspezialisten Cray Research, zurück nach China. Dort entwickelt er Maschinen, die zu den schnellsten der Welt gehören sollen. Dieser Trend passt zu Chinas Finanzierungsmethode für weitere Forschung. Denn Ingenieure, die chinesisch sprechen, sich in China auskennen und spezielle Fähigkeiten haben, zum Beispiel zwanzig Jahre Entwicklungs-Know-how, gibt es in China nicht. Das sagt Greeving (HP Labs), der zuvor das HP-Labor in Bangalore, Indien aufbaute. »Heute kann man diese Leute vielleicht nicht mit Geld ködern, dafür aber mit Aussichten auf eine langfristige Karriere, die in China besser sind als in den USA«, sagt er. So die Theorie. In der Realität allerdings ist es noch schwierig, chinesischstämmige Spezialisten zum Umzug von den USA nach China zu bewegen. Das jedenfalls glaubt Hsu Meichung, der ebenfalls für die HP Labs arbeitet.
Donnerstag, 9. November
IBM-Forschungslabor. Chinas Wirtschaft läuft mit Vollgas. Das Problem der Unternehmen ist, wie man den Schwung so sanft bremst, dass nicht zu viel in Herstellungskapazitäten, Gebäude und Preissenkungen investiert wird. Zudem wird das Land durch die Finanz- und Herstellungsindustrien mittlerweile reicher. Was bedeutet das für die Technologieentwicklung? Indien ist der Vergleichsmaßstab: beides sind asiatische Länder mit schnellem Wirtschaftswachstum, Modernisierung und wachsendem politischen Einfluss. »Indien hat einen Vorsprung durch Y2K«, erläutert Thomas Li, der Direktor von IBMs chinesischem Forschungslaboratorium. IBM hat hier einige Erfahrung: Man ist seit 70 Jahren in China aktiv und beschäftigt dort 7600 Mitarbeiter. Erst kürzlich wurde das globale Einkaufsmanagement nach Südchina verlegt, der Chefeinkäufer sitzt statt in New York jetzt in Shenzhen. Vor zwei Wochen haben IBM und Lehman Brothers einen Fond von 180 Millionen Dollar aufgelegt, um in chinesische Firmen zu investieren. Der wirtschaftliche Entwicklungsplan betont die Bedeutung moderner Dienstleistungen wie IT gegenüber herkömmlichen wie Tourismus oder Logistik. Aber Indien hat sich bei Softwareentwicklung, Chipdesign und anderen Diensten einen Vorsprung erarbeitet. »Es ist keine gute Idee, wenn China versucht, die indische Entwicklung zu kopieren«, sagt Li. »Und die Regierung versteht das genau.«
Freitag, 10. November
CIO-Konferenz der InformationWeek China. Im Ballsaal eines staatlichen chinesischen Hotels auf Pekings teuerster Einkaufsmeile veranstaltet InformationWeek China die zweite jährliche chinesische CIO-Konferenz. Rund 300 chinesische IT-Leiter sind gekommen, dazu wenige Amerikaner und Inder. Der Generaldirektor des chinesischen Informationsministeriums betont in einem Vortrag Chinas Bedarf nach Unabhängigkeit von ausländischen Herstellern in der Informationstechnik. »Ausländische Betriebssystemanbieter« seien ein besonderes Problem. Man muss nicht lange raten, wer gemeint ist. Dann folgen Beiträge der CIOs. Von ihnen gibt es hierzulande bisher nur wenige. Viele von ihnen sind erschienen. Allerdings kommen die klarsten Statements von den ausländischen Teilnehmern. Sirsij Peshin, Direktor Business Technology bei Pfizer, dessen chinesische Umsätze derzeit bei 250 Millionen Dollar pro Jahr liegen und jährlich um 30 Prozent zulegen, beklagt sich über die Schwierigkeiten, in China Geschäfte zu machen. Jede Provinz hat eigene Gesetze, und die chinesische Tradition des guanxi, die persönliche Beziehungen in den Mittelpunkt stellt, behindert die Effizienz. »Der chinesische Markt wird von Beziehungen angetrieben. Die werden manchmal zu informell«, sagt Peshin im persönlichen Interview. In reifen Märkten bekommt Pfizers IT-Abteilung eine Anforderungsliste und entwickelt entsprechend. In China werden Ideen beim Abendessen langsam entwickelt – das bedeutet im Endeffekt 15 bis 20 Prozent höhere IT-Kosten wegen zahlreicher Redesigns. Andere beklagen hohe Personalfluktuation im IT-Bereich. Kurz: Das Reich der Mitte bietet unzählige Möglichkeiten, aber diejenigen, die dort aktiv werden, können auf abstruse Weise scheitern, wenn sie nicht zuerst versuchen, das Land zu verstehen.