Von der Reaktion auf den NSA-Skandal zur strategischen Plattform für den öffentlichen Sektor: Das Zentrum für Digitale Souveränität (ZenDiS) will nicht weniger als die digitale Eigenständigkeit von Deutschlands Verwaltung sichern. Ein ambitionierter Anspruch – mit zunehmend konkreten Ergebnissen.
Das Zentrum für Digitale Souveränität der Öffentlichen Verwaltung (ZenDiS) hat sich zum Ziel gesetzt, die digitale Eigenständigkeit des Staates zu stärken. Im Gespräch erläutern Alexander Pockrandt, Geschäftsführer, und Pamela Krosta-Hartl, Leiterin Strategie & Kommunikation, wie das ZenDiS mit Open-Source-Ansätzen strukturelle Abhängigkeiten reduziert – und welche politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hürden noch bestehen.
Die Gründung des ZenDiS ist eine direkte Reaktion auf die fundamentalen Abhängigkeitsverhältnisse der öffentlichen Verwaltung von wenigen, meist US-amerikanischen Technologiekonzernen. Missstände, die durch den NSA-Skandal 2013 deutlich wurden. Damals war es der Satz „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“, mit dem Angela Merkel die politischen Folgen zu mildern versuchte. Doch auf technischer Ebene blieb alles beim Alten. Selbst mit No-Spy-Klauseln und Selbstverpflichtungen der Hersteller änderte sich wenig. Die Verwaltung blieb in Folge in vielen Bereichen strukturell verwundbar. Zentrale Komponenten staatlicher IT-Infrastruktur stammten und stammen mitunter immer noch von wenigen Herstellern, deren Produkte tief in den digitalen Alltag des öffentlichen Sektors eingebettet sind.
Eine PwC-Studie im Auftrag des Innenministeriums offenbarte später, wie tief diese Abhängigkeiten tatsächlich reichen: 96 Prozent der PC-Arbeitsplätze in der Bundesverwaltung nutzten Microsoft Office. Weitere Schlüsseltechnologien wie Datenbanken (Oracle) und Virtualisierung (VMware) wurden ebenfalls von wenigen Anbietern dominiert. Besonders kritisch: Hersteller wie Microsoft verlagerten ihre Produkte einseitig in die Cloud – ohne Rücksicht auf sicherheitsrelevante On-Premises-Bedürfnisse der Verwaltung. „Sie agieren nach dem Prinzip Love it or leave it und machen sich den Umstand zu Nutzen, dass der Weg aus proprietären Lösungen herausfordernd ist“, kommentiert Alexander Pockrandt im Gespräch mit connect professional diese Dynamik.
Um auf den Vendor Lock-in zu reagieren, wurde Ende 2022 das ZenDiS gegründet – angesiedelt unter dem Bundesministerium des Innern (BMI). Seit Januar 2024 ist das Zentrum operativ als Bundes-GmbH tätig, aber mit dem Ziel, zur Bund-Länder-GmbH zu wachsen. Das ZenDiS ist als Kompetenz- und Servicezentrum konzipiert und adressiert die zentrale Frage: Wie kann sich die öffentliche Verwaltung aus kritischen Abhängigkeiten von einzelnen IT-Anbietern lösen und ihre Handlungsfähigkeit wahren? Die Idee: eine zentrale Instanz schaffen, die die rund 13.000 Verwaltungs-Entitäten in Bund, Ländern und Kommunen bei der digitalen Souveränität unterstützt – sei es durch Alternativen, Infrastruktur oder Wissenstransfer. „Wenn jede Behörde einzeln souverän werden soll, verlieren wir Geschwindigkeit und Orientierung“, erklärt Pamela Krosta-Hartl. Daher bündele das ZenDiS Bedarfe und schaffe gemeinsame Lösungen und Beratungsangebote für Bund, Länder und Kommunen.
Als GmbH agiert ZenDiS dabei nicht wie eine Behörde mit fixem Haushalt, sondern finanziert sich über Aufträge und Projekte. Es kann selbst Investitionen tätigen, Einnahmen aus Lizenzierungen (zum Beispiel OpenDesk-Subskriptionen) reinvestieren und strategische Projekte vorantreiben – etwa den geplanten Souveränitätscheck, ein Analyseinstrument zur Bewertung von IT-Lösungen und Organisationsstrukturen (s. weiter unten). Dadurch bleibt das Zentrum flexibe, aber auch abhängig vom politischen Willen der Auftraggeber.
Das Zentrum für Digitale Souveränität der Öffentlichen Verwaltung verfolgt seine Mission entlang dreier strategischer Schienen:
Herzstück ist die Plattform OpenCode (Eigenschreibweise „openCode“), die nicht nur Code-Repositories beherbergt, sondern einen rechtssicheren Rahmen für ressort- und ebenenübergreifende Zusammenarbeit an Digitalprojekten bietet. Ein Novum im föderalen System. Mit fast 7.000 Nutzenden und rund 3.000 Projekten wird sie bereits intensiv genutzt. Hier finden sich unter anderem Konsultationen zur Architekturrichtlinie des Bundes ebenso wie geteilte Best-Practices und ein Lizenzclearing für Open-Source-Projekte.
Ein zweites Flaggschiffprojekt ist OpenDesk (Eigenschreibweise „openDesk“), eine umfassende Office- und Kollaborationssuite auf Open-Source-Basis. Sie vereint Lösungen von derzeit acht unabhängigen europäischen Anbietern unter einer einheitlichen Nutzeroberfläche (Stand Mai 2025). Anstatt sich in Einzeltools einloggen zu müssen, nutzen Verwaltungsmitarbeitende eine einheitliche Oberfläche mit integrierter Suche, Chat, Videokonferenzen, Kalender und Dokumentenbearbeitung. Technologisch basiert OpenDesk unter anderem auf Nextcloud, Matrix, OpenProject und Univention, das SaaS-Angebot wird bei Stackit gehostet. ZenDiS selbst entwickelt dabei nicht, sondern übernimmt die Rolle eines Product Owners: „Wir bringen Komponenten zusammen, integrieren und orchestrieren sie, passen die Gesamtlösung an die Bedarfe der Verwaltung an und ermöglichen einen verlässlichen, skalierbaren Betrieb“, so Krosta-Hartl.
OpenDesk wurde im Oktober 2024 gelauncht und ist aktuell auf rund 70.000 Arbeitsplätzen in der Verwaltung im Einsatz. Kürzlich konnte das ZenDiS zudem einen Rahmenvertrag mit der Bundeswehrinformatik abschließen und das Robert-Koch-Institut als Kunden gewinnen. Bis Ende 2025 könnte sich die Zahl der aktiven OpenDesk-Enterprise-Subskriptionen auf über 100.000 erhöhen. Neben Verwaltungseinrichtungen zeigen auch Universitäten, Forschungsinstitute, Unternehmen und europäische Partner starkes Interesse. Und obwohl es OpenDesk auch als kostenlose Community Edition gibt, entscheiden sich viele für die kostenpflichtige Enterprise Edition, die mit Service und Support einhergeht. „Das unterstreicht den Bedarf an verlässlichen und nachhaltigen Betriebsmodellen“, erklärt Krosta-Hartl. Kooperationsprojekte mit Frankreich („La Suite Numérique“) und den Niederlanden untermauern den Anspruch, europäische Souveränität technologisch greifbar zu machen. Sogar die Schweiz testet OpenDesk als Lösung für Notfallszenarien.
Neben OpenDesk und OpenCode arbeitet das ZenDiS an einem dritten Baustein: dem Souveränitätscheck. Ziel ist eine Bewertung von IT-Lösungen und Organisationsstrukturen hinsichtlich ihrer digitalen Souveränität. Geplant ist konkret ein „Score“, der beispielsweise Abhängigkeiten bei Datenhaltung, Betrieb oder Entwicklung sichtbar macht. Derzeit befindet sich das Projekt aber noch in einer frühen Konzeptionsphase.
Ein weiteres Projekt ist die Entwicklung einer sicheren und souveränen Videokonferenzlösung – als Reaktion auf Sicherheitsvorfälle im Bund. Auch hier folgt ZenDiS seinem Prinzip: keine Eigenentwicklung, sondern Integration und Weiterentwicklung bestehender Open-Source-Komponenten. Parallel wird geprüft, wie openDesk Enterprise künftig auch für Hochschulen, Forschungsinstitute und die Privatwirtschaft zugänglich gemacht werden kann. Pamela Krosta-Hartl erläutert, dass derzeit Modelle geprüft werden, bei denen zum Beispiel über Konzessionen Vertrieb und Betrieb auch über Partner erfolgen können.
Soweit die Theorie. In der Praxis stößt digitale Souveränität auf drei große Barrieren: Unsicherheit in Vergabeverfahren, kulturelle Widerstände und unklare politische Steuerung. Obwohl viele Verwaltungen Open Source befürworten, fehlt vielerorts das Know-how, entsprechende Ausschreibungen rechtskonform zu gestalten. ZenDiS hilft daher nicht nur mit Beratung, sondern stellt über OpenCode eine umfassende Wissensbasis bereit: Lizenzbewertungen, rechtliche Leitfäden, Best Practices. Ein aktuelles Beispiel: Ein Ministerium, das ursprünglich eine proprietäre Software ausschreiben wollte, wird aktuell dabei unterstützt, die Ausschreibung so umzustellen, dass sich auch Open-Source-Anbieter beteiligen können.
Darüber hinaus sieht sich ZenDiS auch als Vermittler zwischen Verwaltung und mittelständischer Open-Source-Wirtschaft. „Wir haben in Deutschland und Europa ein sehr starkes und innovatives Open-Source-Ökosystem“, erklärt Pockrandt. ZenDiS schafft für diese Firmen Zugang zum schwer erreichbaren Markt des öffentlichen Sektors, indem es die Bedarfe der Verwaltung identifiziert und bündelt und mit den Angeboten der Digitalwirtschaft in Einklang bringt.
Die größten Hemmnisse aber bleiben oft kulturell bedingt: Viele Mitarbeitende in der Verwaltung nutzen seit Jahrzehnten Microsoft-Produkte – der Wechsel zu einem neuen System erscheint mühsam. „Erfahrungsgemäß dauert die Umgewöhnung jedoch nur wenige Tage“, so Krosta-Hartl. ZenDiS setzt auf niedrigschwellige Begleitung, Feedbackmechanismen und transparente Weiterentwicklung. Dabei sprechen neben dem Mehr an digitaler Souveränität auch wirtschaftliche Gründe für Open-Source-Alternativen: Die Lizenzkosten im Bund seien laut Krosta-Hartl innerhalb weniger Jahre von rund 700 Millionen auf über 1,2 Milliarden Euro jährlich gestiegen. Und das, obwohl der Nutzerkreis kaum wuchs. Die Preise seien schlichtweg gestiegen, weil die Anbieter es konnten. „Schon 10 Prozent Umstellung auf Open Source würden enorme Summen freisetzen.“ Projekte wie OpenDesk würden zeigen, dass bereits mit zweistelligen Millionenbeträgen substanzielle Alternativen entwickelt werden können – eine Größenordnung, die im Vergleich zur aktuellen Kostenlage ein Vielfaches an Einsparpotenzial verspreche.
Pamela Krosta-Hartl: „Fast 1,3 Milliarden Euro pro Jahr nur für Softwarelizenzen? Diese Abhängigkeit ist nicht nachhaltig“ |
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Welche Rolle der politische Wille dabei spielt, bleibt abzuwarten. Seit dem Frühjahr 2025 untersteht ZenDiS dem neu gegründeten Bundesministerium für Digitalisierung und Staatsmodernisierung, das das BMI in diesem Bereich ablöst. „Wir sind optimistisch“, sagt Krosta-Hartl und verweist auf die hohe Sichtbarkeit des Themas im Koalitionsvertrag und erste öffentliche Auftritte von Digitalminister Karsten Wildberger. ZenDiS erhofft sich vom neuen Ressort strategische Kontinuität und operative Rückendeckung – und will gleichzeitig mit der geplanten Umwandlung zur Bund-Länder-GmbH langfristig unabhängiger agieren.
„Digitale Souveränität ist kein Selbstzweck. Sie bildet die Grundlage für unsere Daseinsvorsorge und unser Staatswesen. Hierfür benötigt unser Staat eine handlungsfähige, moderne und resiliente Verwaltung über alle Ebenen der Staatsorganisation hinweg“, resümiert Alexander Pockrandt.