Koordination in Notfällen
Koordination in Notfällen Ein web-basiertes Software-System unterstützt den Schweizer Zivil- und Katastrophenschutz bei der Koordination von Rettungskräften, Polizei und Hilfsorganisationen.


Der in Ittigen ansässige Koordinierte Sanitätsdienst (KSD) unterstützt alle zivilen und militärischen Stellen der 26 Schweizer Kantone, die mit der Planung, Vorbereitung und Durchführung von sanitätsdienstlichen Maßnahmen beauftragt sind: darunter Einsatzzentralen, Krankenhäuser, Rettungsdienste, Polizei, Feuerwehr und Armee. Ziel ist es, in jeder Situation die bestmögliche Versorgung von Patienten zu gewährleisten. Das neue Informations- und Einsatzsystem (IES) bezieht dafür alle Instanzen einer Rettungskette ein und unterstützt Einsatzkräfte und Führungsgremien. Auftraggeber für das IES ist der Beauftragte des Schweizer Bundesrates für den KSD, der zugleich Oberfeldarzt und Chef des Sanitätsdienstes der Armee ist. Rechtlich bezieht sich das IES-Projekt auf die Verordnung des Bundesrates aus dem Jahr 2005, die vom KSD eine kantonsübergreifende Koordinationsfähigkeit sowie die Gesamtübersicht der aktuell verfügbaren Ressourcen im Gesundheitswesen verlangt.
Vorgehen in kontrollierten Schritten
Gemeinsam mit den IT-Dienstleistern Itelligence und Couniq setzt die Behörde die Anforderungen mit Software aus dem Paket Netweaver des Herstellers SAP schrittweise um. Nach einer festen Projektlaufzeit ist das erste Etappenziel frist- und budgetgerecht erreicht: eine Übersicht über verfügbare Notaufnahmekapazitäten, medizinische Einrichtungen und Spezialisten in Krankenhäusern der Eidgenossen in Echtzeit, um die medizinische Hilfe bei Katastrophen zu beschleunigen.
Kapazitäten sofort im Blick
Im Frühjahr 2006 wurde das Software-System in den Kantonen Aargau, Graubünden, Solothurn, der Kantonspolizei Bern sowie bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) eingeführt. »Vor Einführung des IES mussten die Verantwortlichen der Sanitätsnotrufzentralen die freien Kapazitäten in Notfallstationen oder auch die Verfügbarkeit von Spezialisten etwa für Brandverletzungen bei den Krankenhäusern telefonisch erfragen«, berichtet Rudolf Junker, Projektleiter beim KSD. Diese zeitintensive Ersttätigkeit entfällt jetzt. Der IT-gestützte und teils automatisierte Arbeitsablauf des IES verkürzt die Reaktionszeiten. Geht ein Notruf ein, werden über das Web-Portal erste Angaben zum Unfall erfasst und Rettungskräfte zum Schadensort entsandt. Nach Schadensaufnahme und Rückmeldung stellt die Notrufzentrale eine Anfrage über das IES an alle umliegenden Krankenhäuser. Dies ist per Fax, E-Mail, Pager und SMS möglich. Unter Einbeziehung der Fachkräfte und Ärzte melden die Krankenhäuser ihre Aufnahmekapazitäten aktuell sowie für weitere zwei und sechs Stunden direkt über das IES-Portal zurück, von wo aus sie der Einsatzleitung sofort zur Verfügung stehen. »Mit Hilfe des IES erhält die Einsatzzentrale eine aktuelle Gesamtübersicht über alle Aufnahmekapazitäten«, erklärt Junker. Den Einsatzkräften und Führungsgremien stehen damit umfassende Informationen aktuell zur Verfügung. Die Anwendungen und Prozesse für das IES entwickelte, optimierte und testete Itelligence in Zusammenarbeit mit den KSD-Partnern. Das Ergebnis zeigt sich in so genannten Guided Procedures. Die mit Grafiksymbolen gestaltete Benutzerführung wird über das Netweaver-Portal bereitgestellt. Das spart den Einsatzkräften Zeit. Das IES unterstützt die Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch sowie Englisch. Die Anmeldung am System und der weitere Zugriff auf angebundene Applikationen erfolgt zeitoptimiert per Single-Sign-On. Nach einmaliger Anmeldung erhält der Anwender Zugang zu sämtlichen für seine spezifische Aufgabe relevanten Informationen. Dieser rollenbasierte Zugriff wird über das Portal abgebildet und bietet den Polizeikräften eigene Funktionen, zum Beispiel zur Erfassung beteiligter Personen. Die Entwicklungsumgebung des Application Server aus dem Netweaver-Paket wird ebenfalls verwendet: »Diese bietet uns alle nötigen Funktionen und Schnittstellen, um die weiteren Projektziele umzusetzen«, sagt Claude Flükiger, Geschäftsführer von Itelligence in der Schweiz. Die Applikationsentwicklung stützt sich wesentlich auf die proprietäre Technologie Web Dynpro, um Web-Anwendungen schneller erstellen zu können.
Anwendungsentwicklung in der SAP-Welt
Einen weiteren Grund für die Entscheidung zugunsten von SAP sieht Projektleiter Junker in der Integrationsfähigkeit von Netweaver. Laut einer Umfrage nutzen bereits etwa 80 Prozent der Schweizer Krankenhäuser SAP-Lösungen. Die zahlreichen Schnittstellen in Netweaver und verbreitete Technologien wie Java und .Net erleichtern zudem die Integration von Drittlösungen, was für den Investitionsschutz wichtig ist. Seit der Einführung des IES erweitern KSD und Itelligence die Lösung schrittweise. Seine Tauglichkeit stellte das System bereits bei mehreren Gelegenheiten unter Beweis: etwa bei der Airshow 2006 in Grenchen oder der grenzüberschreitende Übung Regio Cat 2006 in Basel mit deutschen, französischen und schweizerischen Einsatzkräften. Dank einer umfassenden Anwenderdokumentation und individuellen Schulungen sind die Kernnutzer beim KSD mittlerweile in die Lage, weitere IES-Anwender selbst anzuleiten. Bis zur Fußball-Europameisterschaft 2008 wollen die Eidgenossen das IT-System IES im ganzen Land verfügbar machen. Projektschwerpunkt der letzten Monate war die Integration weiterer Einsatzkräfte wie Polizei und Hilfsorganisationen. Die Schweizerischen Bundesbahnen leisten über IES einen Beitrag zum elektronischen Personen- und Patientenmanagement. Während spezielle Einsatzkräfte im Schadensfall die Personalien der Passagiere vor Ort via Laptop und Internet-Verbindung aufnehmen, richtet eine eigene Spezialabteilung der SBB eine Hotline für Vermisstenmeldungen ein. Diese werden in einem Call Center in Brig gesammelt und via IES der Polizei in Echtzeit zur Personenidentifikation bereitgestellt, um etwa den Angehörigen den Standort eines Vermissten mitteilen zu können.
Verwaltung mit RFID
Als weitere Ausbaustufe ist geplant, mit Hilfe der RFID-Technologie den Transportweg der Patienten vom Schadensort bis zur Notaufnahme im Krankenhaus zu begleiten. Dieses so genannte Patienten-Tracking wird aktuell in einem Feldversuch mit dem Notfallzentrum Inselspital in Bern getestet. Das Patientenleitsystem (PLS) nutzt die bereits übliche PLS-Tasche mit Patienteninformationen, welche den Patienten auf dem Weg ins Krankenhaus begleitet. Ein in der Tasche integrierter RFID-Tag trägt einen Nummerncode, der entlang der Rettungskette mit RFID-Lesegeräten ausgewertet werden kann. Nach einem Abgleich mit den im IES gespeicherten Daten kann die Person anhand der Nummer identifiziert werden. Beim Eintritt ins Krankenhaus wird zukünftig ein mit einem aktiven RFID-Tag versehenes Armband angebracht, das weitere Rückmeldungen in Echtzeit ermöglicht. »Die Standortdaten des Patienten geben eine noch genauere Gesamtübersicht über die aktuelle Belegungssituation in der Notfallaufnahme bis hin zu einzelnen OPs und anderen Behandlungsplätzen«, erläutert Projektleiter Junker das zukünftige Potenzial der IT-Lösung. Schon heute helfe das IES, Leben zu retten und die Patientenversorgung zu verbessern. Auch für das langfristige Ziel der Kosteneinsparung sei mit SAPs Netweaver die richtige Wahl zur Realisierung dieses öffentlich finanzierten Projekts getroffen worden.
Hans-Peter Bayerl ist IT-Journalist in München.