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connect professional-Kommentar

Entschleunigende Echtzeit

Digitale Tools haben den Arbeitsalltag in vielen Unternehmen stark verändert. Im Idealfall nehmen solche Lösungen den Menschen Arbeiten ab und beschleunigen Prozesse. Gerade letzteres kann für den Menschen zur Herausforderung werden.

Autor: Sabine Narloch • 3.12.2025 • ca. 2:45 Min

© Mahmudul Hassan – shutterstock.com

Echtzeit – das ist die Marge, die es bei der Übertragung von Daten für Echtzeitanwendungen zu erreichen gilt. Ursachen für Latenzen beziehungsweise Zeitverzögerungen gibt es verschiedene: von physischen Entfernungen, die ein Signal zurücklegen muss, über die Art des Übertragungsmediums bis hin zu einer hohen Netzwerkbelastung und regelrechten Staus auf Datenautobahnen. Von der technisch-digitalen Warte aus gesehen ist die Echtzeit somit ein schwer zu erreichendes Gut.

Und wie sieht es mit der Echtzeit auf menschlich-persönlicher Ebene aus? Komische Frage, werden Sie sich vielleicht denken. Schließlich leben wir ja alle automatisch in der Echtzeit, auch wenn dieser Moment jeweils nur verschwindend kurz ist. Doch schaut man sich an, was (in beruflicher Hinsicht) vielerorts aus der Echtzeit geworden ist, muss man sagen, dass jeder einzelne Moment unter Verdichtung ächzt: durch Verwischung von Berufs- und Privatleben, ständige Erreichbarkeit, Informationsüberflutung, Zeitdruck und Multitasking.

Klassische Situationen dafür dürfte jeder kennen: So kommen heutzutage Nachrichten nicht mehr nur im E-Mail-Eingang an – vom analogen Briefkasten ganz zu schweigen – sondern auch in diversen Messenger- und Collaborationtools; zudem sind nicht alle Nachrichten explizit für einen selbst bestimmt; das ist eine bekannte Folge davon, wenn man im Verteiler „nur“ cc gesetzt ist oder eben Mitglied einer Gruppe, eines Teams, eines Kanals ist.

Ein andere Standardsituation: Die Wartezeit, bis sich ein Computerprogramm geöffnet hat, beispielsweise mit der Beantwortung einer Nachricht zu überbrücken. Ist das Programm startklar, wird wieder dorthin hinübergesprungen und eine Datei geöffnet; bis diese geladen ist, geht‘s wieder hinüber zur Mail. Ach ja, und auf dem Handy (Stichwort „Second Screen“) blinkt auch irgendetwas…

In der Wissenschaft hat sich für diese Phänomene der Begriff Technostress etabliert. Sieht man sich an, welche Aspekte unter Technostress gefasst werden, so ist das eine lange Liste: technikbezogene Überlastung, technikbezogene Komplexität, Unsicherheit und Verunsicherung durch Technik, technikbezogene Entgrenzung, Unzuverlässigkeit der Technik, technische Arbeitsplatzüberwachung und Stress durch Mensch-Maschinen-Interaktion.

Studien legen den Zusammenhang zwischen Technostress und Burnout-Symptomen nahe. So hat Sophie-Charlotte Meyer von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in einer online abrufbaren Präsentation von Mai 2024 den Forschungsstand zu diesem noch relativ jungen Gebiet zusammengetragen. Demnach mache vor allem die Informationsflut den Menschen zu schaffen und könne zu einem potenziellen Risiko für Burnout werden.

Ein ähnliches Bild zeichnet eine jüngst erschienene Studie von Twilio unter 2.111 Erwachsenen in Großbritannien. Diese ergab, dass insbesondere Berufstätige in der Lebensmitte unter starker digitaler Belastung leiden. Demnach haben Erwachsene im Alter von 36 bis 40 Jahren im Schnitt 2.228 ungelesene persönliche E-Mails. Und 41 Prozent der 36- bis 55-Jährigen wünschen sich mehr digitale Ruhezeiten am Arbeitsplatz.

Die Krankenkassen haben sich dieses Themas bereits angenommen. So gibt es beispielsweise Apps für das digitale Stressmanagement, die von den Kassen übernommen werden. Wer es ohne digitale Unterstützung angehen möchte, für den mag der Tipp von der Barmer-Webseite hilfreich sein, „Entschleunigungs-Oasen“ zu schaffen. Damit sind Freiräume gemeint, in denen man explizit nicht erreichbar ist.

Unter den Befragten der Twilio-Studie versuchte jeder Fünfte im letzten Jahr einen Digital Detox. 83 Prozent gaben an, dass Alleinzeit Energie zurückbringe, 69 Prozent beobachteten positive Effekte auf die mentale Gesundheit.

Nun mögen die Wochen zwischen den Jahren – gerne als stille Zeit bezeichnet – zum Anlass taugen, den beruflichen und privaten Umgang mit digitalen Geräten zu überdenken und zu verändern. Sprich: bewusster zu entscheiden, wann und wie viel digitale Medien den Moment bestimmen sollen.

Vielleicht hat sich der ein oder die andere im nun endenden Jahr schon mal dabei erwischt, sich bei einem Kongress auf Folgendes zu freuen: eine halbe oder dreiviertel Stunde ausschließlich einem Vortrag zuzuhören, das Handy in der Handtasche, ganz ohne Ablenkung, voll und ganz auf Spur mit der Echtzeit. Solche Momente könnten im Berufs- und Privatleben kultiviert werden. Es ist schwer, dieses kostbare Gut zu erreichen – aber nicht unmöglich.