Sweetspot für IT-Entwicklung

Auto von Morgen, Software von heute – aus Bochum

3. Februar 2025, 8:30 Uhr | Interview: Diana Künstler
© Lutz Leitmann/Stadt Bochum

Die Ruhrgebietsstadt entwickelt sich rasant zum Hotspot für IT und Software. Tobias Nadjib von Cariad erklärt, warum hier die Zukunft der Automobilindustrie mitgestaltet wird.

Seit Anfang 2025 ist Tobias Nadjib bei Cariad1 beschäftigt (Eigenschreibweise „CARIAD“), der Automotive-Software-Marke im Volkswagen-Konzern. Der Konzern bündelt in ihr seine Software-Entwicklung, einschließlich der Arbeit an einer einheitlichen Software-Plattform für alle Pkw-Marken des Volkswagen-Konzerns, dem VW.OS und der Volkswagen Automotive Cloud (VW.AC). Bis Ende 2024 war Nadjib Geschäftsführer der Volkswagen Infotainment in Bochum2, einer Tochtergesellschaft von Cariad, die mehr als 1.000 Mitarbeiter beschäftigt und digitale Technologien für Volkswagen-Fahrzeuge entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt entstand auch dieses Interview. Mit einem Abschluss als Diplom-Kaufmann (FH) und einem Bachelor of Science in Engineering hat Nadjib einen vielfältigen beruflichen Werdegang. Er begann seine Karriere 2004 bei der Volkswagen R GmbH und übernahm unterschiedliche Leitungsfunktionen in den Bereichen Vertrieb Europa, Internationale Vertriebsstrategie und Organisation. 2014 wurde ihm die Leitung der Integration des ehemaligen europäischen BlackBerry Entwicklungszentrums als Volkswagen Infotainment übertragen. Nadjib betont die Bedeutung von Innovation und Zukunftsmobilität und schätzt die Kreativität und Innovationskraft der Metropole Ruhr.

In einer Interviewreihe lässt connect professional unterschiedliche Vertreter aus Wirtschaft und Forschung die Chancen und Herausforderungen des IT-Standorts Bochum beleuchten. Im Zuge dessen geht Thomas Nadjib näher darauf ein, warum die Stadt perfekt für Innovationen im Automobilbereich ist und liefert exklusive Einblicke in die Standortvorteile, Synergien und die Zukunft der Automobil-Branche.

connect professional: Welche spezifischen Standortvorteile bietet Bochum für IT-Unternehmen im Vergleich zu anderen Städten in Deutschland oder sogar international?

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„Bereits jetzt hat die Stadt Erstaunliches geleistet und ist zu einem Einzugsgebiet für Softwareentwicklung geworden", sagt Tobias Nadjib.
© Lutz Leitmann/Stadt Bochum

Tobias Nadjib: Bochum transformiert sich rapide in Richtung eines einzigartigen Zentrums für Softwareentwicklung, Hardwareentwicklung und IT-Sicherheit. Bereits jetzt hat die Stadt Erstaunliches geleistet und ist zu einem Einzugsgebiet für Softwareentwicklung geworden. Auf einer gut gelegenen Fläche befinden sich ein Max-Planck-Institut (MPI)3, mehrere IT-Unternehmen und die RUB4 mit ihrer doppelten Ausrichtung in Softwareentwicklung und Cybersecurity. Diese Bündelung der richtigen Kompetenzen trifft auf eine ohnehin gute Verkehrsanbindung und eine passende Infrastruktur. Bochum ist somit wirklich ein Sweetspot für die Arbeit, die wir machen.

connect professional: Diesen Vorteilen zum Trotz ist von Bochum allerdings selten die Rede, wenn es um die besten Tech Hubs in Deutschland geht. Oft werden hier eher Berlin, München oder Karlsruhe genannt5. Was meinen Sie, woran das liegt?

Nadjib: Bochum ist natürlich kleiner als Berlin oder München. Viel wichtiger aber ist der Bochumer Kontext. Die Stadt befindet sich im Herzen des Ruhrgebiets und kann auf Synergieeffekte mit den anderen Städten der Metropole zurückgreifen. Es gibt mit anderen Worten eine Wechselwirkung zwischen den einzelnen Gebietseinheiten mit ihren jeweiligen Stärken. Das bringt viele Vorteile. Die individuellen Städte können von der regionalen Einheit profitieren, dafür sind Kooperation und die gemeinsame Entwicklung von Win-Win-Situationen wichtig. Für eine weiterreichende Wahrnehmung ist es erforderlich, sich als Teil des Ruhrgebiets mit den vielen verschiedenen Stärken zu verstehen und mit gebündelten Kräften gemeinsam voranzugehen.

connect professional: Bochum als geografische Mitte des Ruhrgebietes: Welche Synergien ergeben sich Ihrer Meinung nach durch diese Lage und die Nähe zu Städten wie zum Beispiel Dortmund, Düsseldorf und Aachen?

Nadjib: Für eine Region wie das Ruhrgebiet ist eine effektive Kooperation zwischen den 53 dazugehörenden Städten äußerst wichtig. Da Bochum so zentral liegt, hat diese Position einen natürlichen, ausgleichenden Effekt. Man kann die Städte im Ruhrgebiet mit einem Team vergleichen, jedes Mitglied hat seine Stärken und Schwächen. Wichtig: Das Ergebnis wird als Gemeinschaft erzielt.

connect professional: Wie bewerten Sie die Entwicklung von Bochum als IT-Standort in den letzten Jahren und welche Schlüsselereignisse haben Ihrer Meinung nach den größten Einfluss auf diese Entwicklung gehabt?

Nadjib: Die Entwicklung ist wirklich hervorragend gewesen und von einigen Schlüsselereignissen geprägt. So gab es beispielsweise die Gründung eines Max-Planck-Instituts, die Einrichtung eines Exzellenzclusters, die Gründung des Horst-Görtz-Instituts6 und noch einige weitere.

„Es gibt natürlich keinen Wirtschaftszweig, der so dynamisch ist, wie die alles rund um IT, Hardware- und Softwareentwicklung. Die Bedingungen und Anforderungen verändern sich schnell und wir müssen dieser Dynamik fortwährend Rechnung tragen. Das heißt, wir dürfen uns nicht ausruhen, sondern müssen wirklich am Ball bleiben.“

connect professional: Volkswagen Infotainment und auch Cariad spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung vernetzter Fahrzeuge. Wie gut ist Bochum als IT-Standort darauf vorbereitet, die Automobilindustrie bei der Entwicklung der Software für das „Auto von Morgen“ zu unterstützen?

Nadjib: Bochum ist sehr gut aufgestellt. Für unsere Bedarfe finden wir immer kompetente Ansprechpartner in der Stadtverwaltung und den angeschlossenen Gesellschaften. Wir sprechen miteinander und suchen praktikable Lösungen. Ein Beispiel sind „Erlkönige“ also getarnte Versuchsfahrzeuge, die stellenweise am Straßenverkehr teilnehmen müssen, um unsere Tests noch praxisorientierter zu machen. Da das wieder etwas Neues ist und daher sowohl den Verkehrsteilnehmern als auch Behörden möglicherweise unbekannt ist, haben wir das Gespräch mit der Stadt gesucht und uns gemeinsam ausgetauscht – und so können wir gut arbeiten.

connect professional: Welche Rolle spielen die Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Bochum bei der Förderung von Innovationen und der Ausbildung von IT-Fachkräften?

Nadjib: Hochschulen und Forschungseinrichtungen spielen eine enorm wichtige Rolle. Sie bilden die Fachkräfte von morgen aus beziehungsweise die Menschen, die auch für uns als Volkswagen Infotainment wichtig sein können. Ich freue mich daher über eine Vielzahl an Kooperationen, zum Beispiel die zwischen Volkswagen Infotainment und der Ruhr-Universität im Bereich Software Development. Es sind solche Formen des Zusammenarbeitens und des Austauschs, die uns als Standort weiterbringen.

connect professional: Inwiefern beeinflussen lokale Förderprogramme, politische Entscheidungen oder städtische Initiativen Ihre Entscheidung, in Bochum zu investieren oder den Standort weiter auszubauen?

Nadjib: Als Gesellschaft des Volkswagen Konzerns haben wir unsere Standortentscheidung nicht von Förderprogrammen abhängig gemacht. Wir sehen natürlich um uns herum die Wirkung solcher Programme. Vor allem bei kleineren Unternehmen und Start-ups, wo einzelne vergleichsweise hohe Risiken in Kauf nehmen, sind Förderprogramme ein wichtiger Baustein. Sie sorgen bei Erfolg für eine diverse Unternehmenslandschaft und je diverser diese ausfällt, desto besser für alle Beteiligten. Ein gut aufgestelltes wirtschaftliches Ökosystem trägt zum gemeinsamen Erfolg der Unternehmen und damit der gesamten Region bei.

connect professional: Wie wichtig sind für Ihr Unternehmen die Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen IT-Unternehmen in Bochum und der Region? Sehen Sie hier noch Ausbaupotenzial?

Nadjib: Vernetzung ist für ein modernes Unternehmen essenziell. Wir vernetzen uns aktiv mit anderen Firmen und darüber hinaus mit weiteren Stakeholdern in unserer Gesellschaft, wie beispielsweise der Wissenschaft und auch sozialen Akteuren. Uns ist es wichtig, mit anderen sehr partnerschaftlich und sogar freundschaftlich umzugehen. Wir können gleichzeitig miteinander an Schnittstellen in Konkurrenz treten oder Lieferbeziehungen haben, dennoch läuft das hier im Revier fair und freundschaftlich. Als Team Volkswagen Infotainment sehen wir uns immer auch als Mitglied unserer städtischen und regionalen Gesellschaft.

connect professional: Wie bewerten Sie die Lebensqualität in Bochum für Fachkräfte im IT-Bereich? Ist die Stadt attraktiv genug, um Top-Talente anzuziehen und zu halten?

Nadjib: Die Grundlage in Bochum ist sehr gut. Es gibt ein vielfältiges kulturelles Angebot, wie unser Theater, die vielseitige Gastronomie, natürlich das Bermudadreieck7 und weitere Ausgehmöglichkeiten und in Zukunft das Haus des Wissens. Und es gibt auch Wachstumsfelder, wie die Verkehrsinfrastruktur und der ÖPNV. Das sind natürlich keine rein lokalen Themen, sondern Projekte für die Kooperation mehrerer Städte im Ruhrgebiet.

Thomas Nadjib, Cariad
Tobias Nadjib vor dem batterieelektrischen Kleinbus ID. Buzz von VW: „Konnektivität und damit Datensicherheit sind für die gesamte Autoindustrie die wichtigsten Zukunftsthemen überhaupt. [...] Die lokale Infrastruktur – beispielsweise in Bezug auf Datenzentren – ist sehr gut ausgebaut und wir können hier sehr gut anknüpfen und darauf weiter aufbauen.“
© Lutz Leitmann/Stadt Bochum

connect professional: Konnektivität und Zukunftstechnologien im Automobilbereich setzen hohe Ansprüche an die IT-Infrastruktur. Welche Rolle spielt Bochums technologische Infrastruktur bei der Entwicklung Ihrer Lösungen für vernetzte Fahrzeuge?

Nadjib: Konnektivität und damit Datensicherheit sind für die gesamte Autoindustrie die wichtigsten Zukunftsthemen überhaupt. Wir stellen in diesem Kontext sehr hohe Qualitätsanforderungen an uns selbst. Und wir wollen uns in der Region mit kompetenten Ansprechpartnern vernetzen; daraus können sehr interessante Synergien entstehen. Die lokale Infrastruktur – beispielsweise in Bezug auf Datenzentren – ist sehr gut ausgebaut und wir können hier sehr gut anknüpfen und darauf weiter aufbauen.

connect professional: Welche Herausforderungen sehen Sie für Bochum, um sich langfristig als attraktiver IT-Standort zu positionieren?

Nadjib: Das Wichtigste wird sein, das Momentum zu halten. Das bedeutet, die aktuelle Geschwindigkeit der Transformation und des Ausbaus beizubehalten. Dafür brauchen wir ein waches Auge für Chancen und es ist sinnvoll, gezielt strategische Partnerschaften mit anderen Städten, Regionen und Akteuren anzustreben. Zielführend wäre ein strukturiertes Clustering: Das Ruhrgebiet beheimatet ja ganz viele verschiedene Kompetenzen. Wo sitzen die? Wie kann ich mich von außen orientieren und schnell Fuß fassen, wenn es um Investitionen geht? Das sind Fragen, die dringend geklärt werden sollten.

connect professional: Welche zukünftigen IT-Trends und -Technologien könnten Bochum besonders beeinflussen oder sogar aus der Stadt heraus gefördert werden? Und wie stellen Sie sich auf diese Entwicklungen ein?

Nadjib: Besondere Aufmerksamkeit haben im Moment Künstliche Intelligenz und Robotertechnologie. Darauf aufbauend die Integration dieser Technologien in unseren Alltagsgebrauch, beispielsweise KI in Autos oder Roboter in Dienstleistungsbereichen. Wir stellen uns darauf ein und beschäftigen uns aktiv mit globalen Entwicklungen und Trends. So haben wir bereits im Mai einen eigenen KI-Kodex aufgesetzt und verabschiedet, um für einen transparenten und klar geregelten Umgang mit KI zu sorgen. Das macht uns aus: Wir wollen Chancen in den Trends unserer technologischen Kompetenzfelder frühzeitig erkennen und ergreifen diese mit unternehmerischer Verantwortung, Mut und kreativer Innovationskraft.

1 https://cariad.technology/
2 https://www.volkswagen-infotainment.com/de.html
https://www.mpi-sp.org/2775/de
https://www.ruhr-uni-bochum.de/de
5 https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2019/heft/10/beitrag/tech-hub-index-deutsche-staedte-im-vergleich.html
https://hgi.rub.de/
7 https://www.bermuda3eck.de/


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