Ein klassisches Beispiel dafür, wie Design kontinuierlich prozessbegleitend mitgedacht wird, ist Apple. Hier spielt es über die gesamte Ökosystem-Entwicklung hinweg eine Rolle. Ein weiteres Beispiel im Bereich Dienstleistungen ist laut Nass Bauer Starbucks. Auch Spotify sei beispielhaft anzuführen. „Es gibt ein paar amerikanische Unternehmen, die das stark betreiben, wie beispielsweise 3M“, ergänzt die Softwaredesignerin. „Sie sind in den vergangenen Jahren extrem gewachsen und haben geschaut, wie man Design gewinnbringend – vor allem im B2B-Bereich – einbringen kann. Aber es gibt auch zunehmend klassische Unternehmen wie Banken, die nicht mehr nur Fachleute und Informatiker beschäftigen, sondern auch Designer in die Prozesse verschiedener Bereiche einbinden“, sagt die gelernte Grafikdesignerin.
Und wie sieht es in Deutschland aus? Gibt es hier trotz mangelnder Fehlerkultur und teils noch verbreiteter Zurückhaltung in Sachen Digitalisierung auch positive Beispiele? „Es gibt schon Initiativen wie bei SAP, die das verstärkt machen“, führt Nass Bauer beispielhaft an. Der Softwarekonzern hat bereits vor zwölf Jahren angefangen, mehrere „SAP App-Häuser“ – unter anderem in Berlin, Heidelberg und Hamburg – einzurichten. Diese Co-Innovation Spaces waren zunächst darauf ausgerichtet, Software-Entwicklungsteam gemeinsam arbeiten zu lassen, um neue Apps für Verbraucher zu entwickeln. Daher auch der Name. Aber bald schon stellte sich heraus, dass man die SAP-AppHaus-Standorte als Ko-Innovationsräume benötigte, in denen Kunden, Endnutzer und SAP-Teams gemeinsam Design Thinking als eine zentrale Methode anwenden konnten, um Ideen zu entwickeln und Lösungen zu gestalten. „Zudem gibt es auch einige Start-ups im Banking-Umfeld, die verstärkt Design berücksichtigen“, fügt Nass Bauer hinzu. „Aber natürlich lässt sich zusammenfassend sagen, dass der deutsche Markt bisher weniger designorientiert war – oder sich zumindest erst langsam in diese Richtung bewegt.“ Besonders wenn es darum geht, nicht nur Prozesse zu digitalisieren, sondern auch wirklich Mehrwerte durch neue Produkte und Services zu generieren, tun sich die Deutschen erfahrungsgemäß noch schwer. Häufig liegt das am „unbekannten Terrain“. Nur wenige Unternehmen trauen sich, den ersten Schritt zu machen. Viele Unternehmen fühlen sich überfordert und benötigen Unterstützung und Erfahrung. Es braucht Expertise. Und genau diese wollen die Forscher vom Fraunhofer IESE durch geeignete Methoden liefern. Um Unternehmen dabei zu helfen, herauszufinden, was sie gut können und wie sich das für Endkunden optimieren oder ins Digitale überführen lässt.
Eine Methode, die das Fraunhofer IESE in diesem Kontext entwickelt hat, ist das „Tangible Ecosystem Design“, kurz TED (deutsch „Greifbares Ökosystem-Design“). Das Prinzip ist so einfach wie spielerisch: Figuren, Autos und Gegenstände von Playmobil werden zusammen mit einer Reihe von Druckvorlagen genutzt, um einen Digitalen-Ökosystem-Dienst zu modellieren. „In einem Workshop hat man fünf bis acht Teilnehmer, am besten mit unterschiedlichem Background – wie Designer, Juristen, Informatiker, Produktmanager oder Sachverständiger“, führt Claudia Nass Bauer aus. „Bei komplexen Sachverhalten spricht auf dieser abstrakten Ebene am Ende jeder über etwas anderes. Mittels der TED-Methode hingegen können alle über dasselbe reden, denn durch das Spielzeug lassen sich Szenarien nachbauen und komplexe Zusammenhänge veranschaulichen. Es wird für alle Teilnehmer ganz explizit greifbar.“ Ein weiteres Beispiel für eine Methodenentwicklung mit Werkzeugunterstützung ist die Web-App „ICSpace“. Hier forschten das Fraunhofer IESE und John Deere gemeinsam. Durch innovative digitale Dienste will man so LandwirtInnen bei bestimmten Entscheidungsprozessen strategisch unterstützen.
Ein Beispiel: Der Farmer soll eine Empfehlung erhalten, wann der beste Zeitpunkt für die Ernte ist. Der Agronom wird gefragt, welche Informationen gebraucht werden, um diese Empfehlung zu geben. Eine Antwort könnten beispielsweise das Wetter und die Benzinpreise sein. Dann werden die benötigen Daten (wie Bodenart, Topografie, Wetterprognose, Bewirtschaftungs- und Ertragshistorie oder auch behördliche Rahmenbedingungen) gesammelt. „Nach einer Weile kommt der Informatiker und fragt: ‚Welche Verfahren benutzen wir, um überhaupt solche Werte zu genieren?‘“, erklärt Nass Bauer. „Dann spielt vielleicht noch hinein, wo man die Daten herbekommt. Und muss man gegebenenfalls noch externe Dienstleister hinzuziehen oder kann man auf eigene Datenbanken zurückgreifen?“ Diese Arbeit sei kollaborativ, interdisziplinär und zeitaufwendig. „Deswegen haben wir auch eine Softwareanwendung entwickelt, wo diese ganzen Informationen gespeichert und dann weiterentwickelt werden können.“
Manchmal führe dabei schon eine kleine Frage zu einer größeren, langwierigen Diskussion. „Die Genauigkeit und Qualität der Daten spielen hier auch eine wichtige Rolle“, so die Softwaredesignerin. „Wenn wir in einem anderen Kontext sind, zum Beispiel im medizinischen Bereich, ist die Genauigkeit der Daten natürlich noch viel relevanter.“ Gesundheitsdienstleister spielen zum Beispiel mit dem Gedanken, hier zu optimieren. Im Zusammenhang mit den Verhaltensdaten stellen sich viele die Frage, wann dem Kunden eine bestimmte Behandlung oder Dienstleistung empfohlen werden kann. „Und das sind schon kritische Fragestellungen, wo Präzision und ethische Aspekte noch viel relevanter sind als eine reine wirtschaftliche Fragestellung“, so Nass Bauer.
Neben ihrem Lehrauftrag möchte Claudia Nass Bauer in Mainz auch die Forschung vorantreiben. Hier gebe es Themen, die sich überschneiden. Themen, die sie auch schon früher am IESE behandelt habe – und zwar in der Fachrichtung Kommunikationsdesign. „Generell wird an der Hochschule Mainz auch über Künstliche Intelligenz beziehungsweise datenintensive Softwaresysteme gesprochen“, führt sie aus. In der jüngsten Vergangenheit habe es in dem Zusammenhang einige Entwicklungen gegeben. Beispielsweise hat im April 2021 die EU-Kommission neue Vorschriften und Maßnahmen für „Exzellenz und Vertrauen im Bereich der Künstlichen Intelligenz“ vorgeschlagen. „In dem Papier wird definiert, was geforscht werden soll. Und es geht darum, dass solche Systeme nicht nur durch Informatiker entwickelt werden sollten“, erklärt die Designerin. „Bringt man nämlich nur Informatiker in die Entwicklung der Systeme ein, hat man eine sehr einseitige Darstellung von der Realität. Datensysteme sind somit im Grunde eine ‚schlechtere‘ Abbildung der Realität.“
Hätte man hingegen ein interdisziplinäres Team, das sich mit solchen Systemen beschäftigt, könne man viel bessere Systeme gestalten. Hat man es in einem solchen Team mit Soziologen, Philosophen, Designern und Juristen zu tun, sei die Perspektivenvielfalt viel eher gegeben. „Der gesetzliche Hintergrund ist natürlich auch wichtig für den Umgang mit datenintensiven Systemen“, gibt Nass Bauer zu bedenken. „Allerdings ist es nicht sinnvoll, dass hier ein Informatiker alles wissen muss. Man sollte aufhören zu schauen, dass man so viele Kompetenzen wie möglich in einer Person vereint. Stattdessen müsse man dafür sorgen, dass ein Informatiker und Jurist gut zusammenarbeiten können. Es geht um ‚wahre Kollaboration‘ und darum, wirklichen Platz und Raum zu schaffen für Vielfalt und echte Zusammenarbeit zwischen diesen Disziplinen.“