Lücken in der Feinplanung

22. April 2004, 0:00 Uhr | Werner Fritsch

Lücken in der Feinplanung. Zwischen ERP- und Steuerungssoftware finden sich in Fertigungsunternehmen immer häufiger Manufacturing Execution Systems (MES). Sie sollen Transparenz in das Betriebsgeschehen bringen und Brücken schlagen zwischen Management und Produktion.

Lücken in der Feinplanung

Die Messlatte für kundenindividuelle Produktions- und Montagesysteme liegt hoch. Der Meister in der Fertigungshalle will am Maschinenterminal exakte Arbeitspläne und Stücklisten vorfinden. Alle am Planungs- und Fertigungsprozess Beteiligten sollten zudem gleichzeitig auf dieselben Daten zugreifen können und selbst externe Zulieferer schicken ihre Auftragsdaten per Internet oder Standleitung direkt an den Planungsserver. "Das verkraften viele betriebswirtschaftliche Standardsysteme nicht", weiß Jürgen Kletti, Geschäftsführer des Softwareherstellers und Dienstleisters MPDV Mikrolab in Mosbach.

Zwischen Management- und Fertigungsebene klafft laut Kletti ein schwer überbrückbarer Graben. Die produktionsnahe IT zerfällt in das führende Leitsystem und spezialisierte Softwarekomponenten, die vor allem für eine termingerechte Umsetzung der in den Produktionsplanungssystemen (PPS) fixierten Vorgaben sorgen. Noch weiter weg vom Fertigungsgeschehen agiert die betriebswirtschaftliche Standardsoftware. Das Enterprise Resource Planning (ERP) verarbeitet Auftrags- und Kundendaten mit ganz anderen Zeitrastern und unabhängig von der auch Shopfloor genannten Fertigungsebene: "Viele meinen mit Unternehmenssoftware ist der Shopfloor abgedeckt", sagt Ingo Krebstekies, Vertriebsleiter der Berghof Systeme in Königsee, "doch die Umsetzung von Fertigungsplänen erfordert den Umgang mit Maschinendaten und einen tagesaktuellen Detaillierungsgrad."

Immenses Datenaufkommen

Die Crux für die ERP-Umgebung im Hinblick auf die Shopfloor- oder Fertigungsebene liegt in dem immensen Datenaufkommen, das Maschinensteuerungen und die darauf abgestimmte Planungsinstrumente und Werkslogistik erzeugen: "Da werden im Sekundentakt große Mengen an Daten generiert", betont Michael Wockenfuß, Produktmanager bei dem Softwarehersteller SoftM. Allein das Just-in-Time-Scheduling von ad hoc angeforderten Prozessen für die Ausführung eines neu eingepflegten Arbeitsvorganges löst bei der Jobplanung eine Vielzahl von Einzelfunktionen aus: Produktions-, Logistik- und Managementprozesse müssen in kürzester Zeit so aufeinander abgestimmt werden, dass der Produktionsauftrag zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Reihenfolge ausgeführt wird. Das belastet die Hintergrundprozesse von SAP & Co, die gar nicht dafür konzipiert wurden, die durchgängige Kommunikation zwischen Geschäftsprozessen und ausführender Produktion sicherzustellen. "ERP-Systeme sind für prozessnahe Aufgaben nicht ausgelegt", bekräftigt Wockenfuß.

Die Lücke zwischen auftragsbezogener Grobplanung und maschienennaher Feinplanung schließen die so genannten Manufacturing Execution Systems (MES). Eine Studie der Unternehmensberatung Frost & Sullivan hat bereits einen deutlichen Aufwärtstrend bei Investitionen in MES festgestellt. Weltweit soll sich der Studie zufolge das Marktvolumen im Bereich des Fertigungsmanagements von rund einer Milliarde US-Dollar im Jahr 2002 auf rund zwei Milliarden US-Dollar im Jahr 2008 verdoppeln. MPDV-Chef Kletti, der auch den MES-Fachausschuss des Verbandes Deutscher Ingenieure (VDI) leitet, rechnet ebenfalls mit zunehmender Nachfrage in Deutschland: "Wir arbeiten mit Hochdruck an einer VDI-Richtlinie, die Schnittstellen und Funktionen von MES klar definieren", sagt Kletti.

MES-Module sind eigenständige Softwarekomponenten, die zwischen ERP und Steuerungsebene agieren. Hersteller nehmen es mit dem Begriff MES allerdings nicht so genau. "Jeder Anbieter versteht unter dem Kürzel etwas anderes", konstatiert Harald Schrimpf, Vorstand des Berliner Softwareherstellers PSI. Die PSI orientiert sich an der Definition der Manufacturing Execution System Association (Mesa), unterscheidet aber zwischen der Steuerung auf Shopfloor-Ebene und dem Management von werksübergreifenden Produktionsprozessen über die Leitsysteme.

Jürgen Kletti, Geschäftsführer bei MPDV Mikrolab, sieht zwischen Management- und Fertigungsebene einen Graben.

Foto: MPDV

Maßgeschneiderte Lösungen

Im Gegensatz zu Standardsoftware greift MES direkt in die ausführenden Prozesse ein und liefert den Einsatzplan für die Maschinenbelegung inklusive Betriebsmittel und Fehlermanagement. Die dafür erforderlichen Informationen erhält das System über Schnittstellen an den Maschinensteuerungen sowie aus dem Planungsbereich im Leitstand. Moderne MES-Module beinhalten sogar Simulationsfunktionen für die Feinplanung. Das Shopfloor-Management des Ebersberger Systemhauses Coscom beispielsweise erzeugt aus erfassten Betriebsdaten verschiedene Ablaufszenarien, die genaue Aussagen über Liefertermine oder Vorhersagen über kritische Zustände zulassen: "Betriebsleiter rufen über die Simulationsliste Planungshistorien ab, die eine Entscheidung über die Maschinenbelegung erleichtern", unterstreicht Armin Hoffmann, zuständig für das Shopfloor-Management bei Coscom.

Bei Siemens ist die MES-Systemintegration in dem Bereich Industrial Solutions (I&S) in Nürnberg angesiedelt. Deren Sprecher, Wieland Simon, geht von einem Wachstum von rund zehn Prozent in diesem Jahr aus. Aus Siemens-Sicht dienen MES vor allem als Entscheidungsgrundlage für die Auslastung von Fertigungsanlagen: "MES-Tools messen beispielsweise den Output einer Anlage auf Basis vordefinierter Leistungsparameter", sagt Simon. Solche Informationen können in ein Gesamtszenario weitergereicht werden, das sehr detaillierte Auskunft über den Maschinenpark und allen damit verbunden Ressourcen gibt. "Von der Stange wird es solche Lösungen allerdings nie geben", warnt der Siemens-Sprecher.

Der Knackpunkt für MES ist die Integration mit den PPS- und ERP-Anwendungen. Der Umfang der Integrationsaufgaben kann sich über den Datenaustausch, den gegenseitigen Funktionsaufruf oder die Gewährung von Zugriffen für unterschiedliche Benutzergruppen und -rollen aus unterschiedlichen Organisationseinheiten erstrecken. Die Automatisierungsspezialisten von Siemens wollen diese Aufgabe mit dem so genannten Simatic IT Framework lösen, das neuerdings mit dem Echtzeit-Informationsportal XHQ ergänzt wurde. Dahinter steckt ein Tool, das Anlagen- und Betriebsdaten sammelt und daraus so genannte Management Dashboards erzeugt. Arbeitsplaner sehen in einer Momentaufnahme alle wichtigen Kenngrößen (Key Performance Indicators, KPIs) wie Anlagenauslastung, Verfügbarkeit von Roh- und Zusatzstoffen oder Produktqualität. Nach Firmenangaben lässt sich darüber ein sehr transparentes Bild des gesamten Betriebsgeschehens abbilden, das sich auch standortübergreifend einsetzen lässt und beispielsweise die Auslastung verschiedener Werke unter Zeit- und Kostengesichtspunkten prüft.

Das MES-Konzept ist noch kontrovers, meint Harald Schrimpf, Vorstandssprecher bei PSI.

Foto: PSI

Keine Wartezeiten an der Maschine

Der Nutzen von MES-Modulen besteht in erster Linie in einer schnelleren Wertschöpfung direkt in der Produktion. Unnötige Wartezeiten, weil das Rohmaterial nicht in ausreichender Menge vorhanden ist, oder Stillstandszeiten der Fertigungsanlagen aufgrund fehlerhafter Arbeitsanweisungen sollen dank MES bald der Vergangenheit angehören. Durch die prozessnahe Verknüpfung von Leitstand und Maschinensteuerungen und dem Produktionsworkflow findet eine minutengenaue Überwachung der Produktionsvorgänge statt, die dem Werker an den Maschinen auch im Störungsfall oder bei Qualitätsproblemen durch schadhafte Chargen weiterhilft.

Allerdings warnen Experten bereits vor allzu euphorischen Einschätzungen hinsichtlich der tatsächlich realisierten Einsparpotentiale. So weisen viele ältere Maschinen überhaupt keine Schnittstelle zum Abgreifen von Prozesssignalen auf. Selbst neuere Fertigungsanlagen verfügen meist über proprietäre Interfaces, die erst nach einigem Aufwand den Datenaustausch mit der MES-Umgebung aufnehmen.

Weitere Fallstricke

Weitere Fallstricke lauern beim Funktionsumfang der eingesetzten MES-Tools. Je nach Anwendungsfall kann es passieren, dass eine bisherige ERP-Komponente durch das MES abgelöst wird. Ein klar umrissener Funktionsumfang lässt sich bei den wenigsten MES-Tools ausmachen. Schon eine einheitliche Basisautomatisierung mit speicherprogrammierbaren Steuerungen beinhaltet Bedien- und Beobachtungskonzepte mit integrierten Diagnosefunktionen, die sich auch auf Leitstandebene verwenden lassen.

Während die Maschinenüberwachung und die Betriebsdatenerfassung noch einigermaßen klar abgrenzbare Bereiche umfassen, fällt die Personaleinsatzplanung oder das Ressourcenmanagement schon in die Zuständigkeit von ERP. Solche Funktionen gehören aber beispielsweise bei der von MPDV entwickelten MES-Software Hydra zum Produktportfolio. Ebenso geht das Siemens-Framework weit über das Maschinen-Monitoring hinaus. Die Komponenten decken alle Fertigungsthemen wie Auftragsmanagement, Materialverwaltung, Personal- und Berichtswesen ab und modellieren ganze Anlagen in Form physikalischer Objekte (Geräte und Anlagen) und logischer Objekte (Softwarepakete und Applikationen). So genannte Production Operations legen dann die Ausführungslogik zwischen den im Anlagenmodell definierten Objekten fest und starten den Produktionsvorgang. Viel Platz für die Standards der Unternehmenssoftware in der Fabrik der Zukunft lässt die MES-Welt nicht mehr übrig.

MES-Funktionen

Ein Manufacturing Execution System (MES) enthält Beschreibungsmethoden zur Abbildung von sehr komplexe Strukturen, die sich rasch ändern können. Der Funktionsumfang beinhaltet in der Regel:

Datensammlung Materialverfolgung Produktionskoordination Feinplanung für die gesamte Produktion

Ein MES erfasst alle Produktions- und Leistungsdaten, verwaltet Lager- und Betriebsmittel und die erforderlichen Personalressourcen. Das Ziel sind kürzere Durchlaufzeiten sowie die Reduktion des Rohstoff- und Energieverbrauchs. Durch kürzere Rüst- und Vorlaufzeiten liegt das Einsparpotential bei 35 Prozent gegenüber einer herkömmlichen Arbeitsplanung, schätzt das Fraunhofer-Institut IPA.


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