Rückstand wettgemacht

27. September 2007, 12:57 Uhr |

Buyers Guide: Videoüberwachung – Die Hersteller von auf IP basierenden Kamerasystemen haben ihre Lösungen weiter professionalisiert. Der Rückstand gegenüber traditionellen CCTV-Konzepten ist nahezu egalisiert.

Noch vor zwei Jahren haben Anbieter reiner CCTV-Lösungen behauptet, ihre Ansätze seien ausgereifter, variantenreicher und vor allem von der Versicherungsbranche zertifiziert. Die IP-Welt habe hier noch so viel nachzuholen, dass die CCTV-Lobby ihr gerade bei professionellen Projekten weniger Chancen einräumte. Für die IP-Gemeinde ist ein Zeitraum von zwei Jahren eine halbe Ewigkeit. Ob die CCTV-Gemeinde unterschätzte, dass die EDV in extrem kurzen Entwicklungszyklen große Fortschritte erzielt?

Tatsächlich haben die Anbieter von IP-Videoüberwachungslösungen die Zeit mehr als gut genutzt. Heute ist auch auf der Kameraseite, auf der die CCTV-Ansätze dank ihres Variantentums noch punkten konnten, der Abstand der IP-Welt nahezu wett gemacht. Die meisten reinen CCTV-Anbieter haben insofern darauf reagiert, dass sie längst IP-Technik in ihr Portfolio aufnahmen. Und wer der Entwicklung bislang keine Rechnung trägt, ist gezwungen, für seine CCTV eine Nische zu suchen. Etablierte Hersteller von Videoüberwachungssystemen wie Sony teilen inzwischen mit, dass sie dieses Jahr zum ersten Mal mehr IP- als CCTV-Kameras verkaufen.

Von einem Umschwung auf diesem Sektor zu sprechen wäre unangebracht, denn er ist längst geschehen. Zu groß sind die Pluspunkte von IP, Ethernet und WAN gegenüber der CCTV-Technik und seiner isolierten Systeminsel, die aus Sicherheitssicht zwar Vorteile, aus der Sicht der Skalierbarkeit und Kompatibilität aber nur Nachteile bringt.

Wissensstand prüfen
Aus Produktsicht ist der Umstieg auf IP längst eingeleitet. Schwieriger ist die Situation bei der Realisierung der Projekte. Irgendjemand muss die für das Beobachtungsziel geeignete Kamera auswählen, am richtigen Ort mit der nötigen optischen Technik aufstellen und an das IP-Netz binden. Und zwar sicher und skalierbar. Hier prallen die CCTV- und IP-Welt ungepuffert aufeinander.

Die bisherigen Reseller und Sicherheitsunternehmen wissen eine Menge über die Kameraseite, verheddern sich aber in den vielen Haken und Ösen der IP-Seite. Gerade bei professionellen Projekten treten sie zu Tage. Viele IP-Kameras müssen implementiert, teilweise über WAN-Leitungen gekoppelt, ihre Alarme und Datenströme in das richtige VLAN und ein skalierbares Storage-Konzept geleitet werden.

Bedingungen, die ein IP-geschulter Mensch in nahezu jedem auf IP basierenden Projekt antrifft und aus dem Effeff kennt. Auf diesem Gebiet hat der typische Kamerainstallateur aber keine oder nur wenig Erfahrung.

Die Hersteller ihrerseits versuchen über Schulungen und Zertifizierungen das Wissen ihrer Partner über beide Welten zu verbessern. Ob jedoch ein CCTV-Händler alle Fragen während harter Diskussionen mit dem IT-Administrator beantworten kann? Denn der verantwortet heute das Budget für ein IP-Videoüberwachungssystem und fällt die Kaufentscheidung, was auch die Hersteller bestätigen. Muss der Administrator doch im laufenden Betrieb dafür gerade stehen, dass das System störungsfrei arbeitet. Der Reseller wird sich ihm zwangsläufig stellen müssen und ihm erklären, wie diese typischen Netzdisziplinen abzuwickeln sind. Für Errichter, die das bis heute nicht begriffen haben, sehen die Hersteller geringe Überlebenschancen. Auch hierin wird deutlich, dass wer auf die IP-Ethernet-Welt nicht reagiert, nicht mehr marktfähig ist.

Wer auf Unternehmensseite ein solches Projekt in die Tat umsetzen möchte, sollte daher unbedingt den Wissensstand des Partners auf dem IP-Gebiet genau unter die Lupe nehmen. Das gilt insbesondere für umfassende Überwachungsprojekte, bei denen die IP-Videoüberwachung mit physischen Zugangskontroll- oder Facility-Managementsystemen interagieren soll. Hier ist, sofern nicht die Lösung aus einer Hand gekauft wird, viel Integrationsarbeit mit Workflow-Prozessen etc. obligatorisch.

Die Frage der Intelligenz
Jeder IP-Kamera ist gemein, dass sie die eingefangenen Bilder mit Hilfe von Encoding-Chipsätzen gleich in digitale Formate umwandelt und komprimiert. Sei es MPEGs, M-JPGs oder H.264. Sie besitzen RJ45-Anschlüsse, einige sind sogar PPPoE-fähig oder sprechen ISDN, um ihre Daten auf den Weg ins LAN oder WAN zu schicken. Auch spezielle Lösungen wie IP-Infrarot-Kameras oder bewegbare Dome-Geräte sind bereits entwickelt.

Die Hersteller sind sich derzeit aber nicht einig, wie viel Intelligenz sie in die Kamera einbauen. Die Diskussion erinnert an die Kontroverse bei Wireless-Access-Points. Soll ein System mehr Funktionen beherrschen, damit es autarker arbeitet und gewisse Dinge vor Ort regelt, ohne permanente Interaktion mit einem zentralen System? Oder soll es möglichst dumm sein, damit eine große Installation wie in einem Thin-Client-Konzept von einer Stelle aus leicht administrierbar bleibt? Die gleichen Argumente fallen auch auf dem Gebiet der IP-Kameras, immer auch vor dem Hintergrund, möglichst günstige Kameras anbieten zu können. Denn mehr Intelligenz erfordert bessere Hardware, sei es um das mächtigere Betriebssystem mit mehr CPU-Kraft und Speicher zu unterstützen. Damit ist solch ein System teurer als ein vergleichsweise dummes. Aber fehlende Intelligenz kann sich gerade bei der Videoüberwachung rächen.

Denn anders als Access-Points kann mehr Funktionalität in der Kamera die Anforderungen an Bandbreite signifikant reduzieren. Maßgeblich hierfür ist die so genannte Ereignissteuerung. Wer ein Objekt, einen Platz oder Flur überwacht, ist in der Regel nur an Ereignissen interessiert, bei denen sich die Situation vor Ort signifikant ändert. Ein Beispiel: Eine Person betritt einen Raum. Intelligente Kameras erkennen solche Ereignisse mit ihrer fortschrittlichen Bilderanalyse. Sie vergleichen dazu das vorherige mit dem aktuellen Bild, wobei der Administrator per Konfiguration genau vorgibt, auf welchen Bildausschnitt sich die Kamera konzentrieren soll. In diesem Fall wäre es die Tür, durch die eine Person in den Raum gelangt. Intelligente Kameras würden nur dieses eine Ereignis melden und die aktuelle Aufzeichnung an den Wachmann senden. Mit Vor- und Nachgeschichte, die die Kamera in ihren lokalen Buffern gesammelt hat.

Eine Lösung ohne diese lokale Intelligenz dagegen schickt permanent Bilder an den Rechner des Wachmanns. Und belastet so das Netzwerk konstant mit Daten. Bei großen Installationen mit mehreren Dutzend Kameras kommen schnell Volumen von mehreren, wenn nicht gar Hunderten MBit/s zusammen. Die Netzverbindungen müssten daher entsprechend größer dimensioniert sein, kräftigere, teurere Switches wären nötig. In redundanten Architekturen, damit das System ausfallsicher arbeitet. Mehr Intelligenz schont Bandbreite.

Das Mehr an Funktion erfordert zugleich ein Mehr an Kontrolle. Die Anforderungen sind prinzipiell vergleichbar mit dem Management von Außenstellen-Firewalls. Auch sie übernehmen ähnlich der IP-Kamera sensible Aufgaben, müssen remote konfiguriert werden und gehorchen einem Regelwerk. Wobei das Regelwerk bei der Kamera das Beobachtungsziel widerspiegelt. Es legt für bestimmte Ereignisse und Bedingungen entsprechende Maßnahmen und Verhaltensnormen fest. Wie bei der Firewall bezieht sich die Videoüberwachungs-Policy auf Objekte, diesmal die zu observierten Türen oder Einfahrten. Und wie in der IT-Security lassen sie sich abhängig von Ort, Zeit und einer Kombination weiterer Parameter aktivieren, sozusagen scharf schalten.

Während aber das Management von Firewall-Appliances in starken zentralen Software-Tools angelegt ist, bleibt die Verwaltung der Kameras von diesem Reifegrad noch ein Stück weit entfernt. So beginnen einige Hersteller gerade damit, SNMP in die Kameras einzubauen. Und wer Konfigurations-Templates, Standard-Profile oder logische Netzwerk- und das Einbinden von Gebäudeplänen erwartet, wird teilweise noch enttäuscht.

Bequem umsteigen
Wer bereits ein Videoüberwachungsprojekt auf Basis der CCTV-Technik realisiert hat, kann die Vorteile von IP durchaus nutzen, ohne seine alten Kameras aufgeben zu müssen. Für den sanften Umstieg haben die Hersteller von Videoüberwachungssystemen so genannte Kameraserver entwickelt, Ähnlich einer Appliance platzieren sie sich über einen oder mehrere 10/100-MBit/s-Ports in das Netzwerk. Per IP- und MAC-Kennung adressiert, zeichnen sie Videosignale auf internen Festplatten auf und schicken sie bei Bedarf direkt an den Zuschauer. Die Kameras klinkt der Server per BNC- oder CAT-5-Kabel ein, wobei er analoge Bilder in PAL- oder NTSC-Formaten intern in digitale und webfähige Video-Codecs umwandelt, bevor er sie speichert oder weiterreicht.

Kameraserver unterscheiden sich darin, wie viele Kameras sie einbinden, welche Bildqualität sie liefern und wie viele der um eine Kamera angeordneten Peripherie-Systeme sie unterstützen. Für jede Kamera ist intern ein Videokanal reserviert, für die der Verantwortliche individuell die Bildqualität bestimmen darf. Allein der benutzte Videocodec, sei es MPEG2, MPEG4 oder H.323, legt schon fest, in welcher Auflösung aufgezeichnet wird.

Zusätzlich lässt sich in den meisten Kameraservern einstellen, in welcher Bildfolge der Server die Signale in das Netz leitet. Auch dies hat Auswirkungen auf die Bildqualität und auf die erforderliche Bandbreite. Ein Kameraserver sollte daher mehrere Codecs unterstützen und die Bildfolge individuell für jeden Kanal anpassen. Einige Hersteller haben in diesem Punkt durchaus ihre Hausaufgaben gemacht. Ihre Kameraserver fixieren die Datenmenge für jeden Videokanal, so dass der Administrator die erforderliche Bandbreite exakt kalkulieren kann. Als Prinzip gilt, das Netz so wenig wie möglich mit Daten zu belasten. Deshalb speichern die Server ihre Daten auf internen Festplatten, um sie lediglich im Ereignisfall über das Netz an den Zuschauer zu senden.

Bilder sehen
Auch die Bildarchivierung, Auswertung, und Betrachtung erfolgt heute auf Basis von IT-Technik. Die von den Kameras aufgezeichneten Bilder werden in einem digitalen Codec-Format auf typischen Storage-Systemen gesammelt und organisiert. Wegen des Datenvolumens sind klassische Server- und Storage-Architekturen dank ihrer weiten Verbreitung, des Standardisierungsgrads und der verfügbaren Software für diese Aufgabe prädestiniert. Der Anwender, sei es nun der Türwächter oder das Personal im Überwachungsraum, sieht die Bilder auf seinem PC.
pm@networkcomputing.de


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