Digitale Souveränität in Europa

Der neue Wettlauf um Kontrolle, Kompetenz und Kooperation

11. Juni 2025, 13:00 Uhr | Autor: Tillmann Braun / Redaktion: Diana Künstler
Erstes bilaterales Treffen von Digitalminister Wildberger mit französischer Amtskollegin Clara Chappaz in Berlin.
© BMDS

Wie wichtig die digitale Unabhängigkeit ist, wird immer offensichtlicher. Endlich wird das Thema auch in der deutschen Politik diskutiert. Damit sich wirklich etwas ändert, müssen den Worten nun Taten folgen – und das auch auf europäischer Ebene.

Digitale Souveränität ist zu einem strategischen Schlüsselbegriff in der europäischen Politik geworden – und längst nicht mehr nur ein Thema für IT-Fachleute oder Datenschützer. In Zeiten geopolitischer Spannungen, wachsender technischer Abhängigkeiten und zunehmender Cyberbedrohungen geht es um nichts Geringeres als die digitale Handlungsfreiheit ganzer Staaten. Für Europa stellt sich damit die Frage: Wie lassen sich digitale Selbstbestimmung und Innovationskraft verbinden? Die Antwort führt unausweichlich zur Open-Source-Community – und zu politischen Entscheidungen. Denn die erforderlichen Lösungen müssen nicht nur technologieoffen sein, sondern von der Politik aktiv unterstützt werden, um zukunftsfähig zu sein.

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Politik entdeckt die digitale Souveränität – endlich

In der deutschen Politik hat sich in den vergangenen Wochen spürbar etwas bewegt. Bundesdigitalminister Dr. Karsten Wildberger betonte auf der diesjährigen re:publica, dass digitale Souveränität kein abstrakter Begriff sei, sondern eine „handfeste Voraussetzung für Vertrauen, Sicherheit und Innovationsfähigkeit“. In seiner vielbeachteten Rede präsentierte er die EUDI-Wallet – eine europäische digitale Identitätslösung – als Symbol eines neuen Selbstbewusstseins: offen, interoperabel und unabhängig von außereuropäischen Plattformen.

Auch auf internationaler Ebene gibt es Bewegung. Im Mai unterzeichneten Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Absichtserklärung zur Vertiefung ihrer digitalen Kooperation. Ziel ist es, grenzüberschreitende Projekte zu fördern – unter anderem im Bereich von Cloud-Infrastrukturen, KI-Anwendungen und Verwaltungssoftware. Doch wie tragfähig ist dieser politische Schulterschluss tatsächlich? Kritiker mahnen, dass der französische Weg bislang zu stark auf staatlich kontrollierte und zentralisierte Lösungen setzt – ein Ansatz, der der europäischen Idee von Vielfalt und Offenheit zuwiderlaufen könnte.

Open Source ist kein Nice-to-have, sondern strategisch notwendig

In Europa gibt es nur eine Chance auf echte digitale Souveränität, wenn auf offene Technologien gesetzt wird. Proprietäre Softwarelösungen, oft aus den USA oder China, binden Staaten, Unternehmen und Verwaltungen an Plattformen, deren Entwicklung sie nicht beeinflussen können. Daten, Schnittstellen und ganze Sicherheitsmechanismen bleiben so undurchschaubare Black Boxes. Digitale Selbstbestimmung ist dementsprechend nicht möglich.

Hier kommt Open Source ins Spiel – und zwar nicht als ideologischer Selbstzweck, sondern als dauerhaft alternativloser Ansatz. Nur durch offen einsehbare und anpassbare Quellcodes lassen sich Transparenz, Sicherheit und Kontrollierbarkeit gewährleisten. Die Open Source Business Alliance (OSBA) bringt es auf den Punkt: Europa muss digitale Kerntechnologien beherrschen. Dazu gehören Betriebssysteme, Cloud-Infrastrukturen, Office-Anwendungen, Kommunikationsplattformen und zunehmend auch KI-Modelle.

Die heimliche Stärke Europas: mutige Mittelständler und Communities

Dass Open Source nicht nur theoretisch funktioniert, zeigt eine wachsende Zahl europäischer Unternehmen, die sich gegen die Übermacht von US-Konzernen behaupten. Projekte wie der Sovereign Cloud Stack (SCS) setzen auf standardisierte, DSGVO-konforme Cloud-Lösungen, die beliebig kombiniert und erweitert werden können – ohne Abhängigkeit von einzelnen Anbietern. Auch im Bereich KI gibt es mit Initiativen wie OpenEuroLLM erste vielversprechende Gegenentwürfe zu den geschlossenen Systemen der Tech-Giganten.

Doch die Bewegung geht längst über die Wirtschaft hinaus. Mit dem Zentrum für Digitale Souveränität (ZenDiS) existiert inzwischen eine zentrale Koordinationsstelle, die Open-Source-Projekte für den öffentlichen Sektor fördert. Ein prominentes Beispiel ist openDesk, eine Office-Lösung, die speziell für Behörden entwickelt wird. Parallel dazu unterstützt ZenDiS über die Plattform OpenCoDE den offenen Quellcode-Austausch zwischen Verwaltungen. Statt jede Softwarelösung mehrfach zu beauftragen, können Verwaltungen gemeinsam entwickeln und voneinander lernen. Ein Paradigmenwechsel im Verwaltungsdenken.

Das größte Kapital Europas sind dabei nicht nur Entwickler-Communities, sondern gerade auch seine Open-Source-Unternehmen. Sie pflegen, erweitern und sichern Open-Source-Projekte und managen die Communities. „Digitale Souveränität muss nachhaltig sein, damit sie strategisch Bestand hat. Dazu braucht es nicht nur den gutgemeinten Einsatz, sondern auch eine nachhaltige Zahlungsbereitschaft für Open Source Software“, sagt Dr. Patrick Alberts, Geschäftsführer von Element, der Open-Source-Firma, welche das offene Matrix-Protokoll erfunden hat. Benötigt wird eine politische sowie finanzielle Unterstützung also eine Open Source-freundliche Beschaffungspraxis, damit sich Open Source als nachhaltiger Standard etabliert, nicht als Ausnahme. 

Staatsmodernisierung beginnt mit Beschaffung

Ein zentraler Hebel liegt in der öffentlichen Auftragsvergabe. Noch immer bevorzugen viele Behörden etablierte Anbieter und scheuen die vermeintliche Komplexität offener Lösungen. Dabei bieten Open-Source-Modelle oft höhere Flexibilität, bessere Interoperabilität, höhere Sicherheit und langfristig niedrigere Kosten. Einige Behörden beschaffen zwar bereits Open-Source-Software, aber mehr als kostenlose Trittbrettfahrer ohne Unterstützung des Ökosystems. Was fehlt, ist oft nur der Mut zur Veränderung – und der Wille, digitale Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit zur Beschaffungsbedingung zu machen.

Dass dieser Mut möglich ist, zeigt Schleswig-Holstein: Das Bundesland setzt konsequent auf Open-Source-Software und plant den vollständigen Verzicht auf proprietäre Bürosoftware wie Microsoft Office. Mit dem Umstieg auf LibreOffice, Thunderbird und Lösungen deutscher Open-Source-Spezialisten wie Open-Xchange, Univention und Nextcloud unterstreicht das Land, dass digitale Souveränität kein ferner Traum, sondern konkrete Verwaltungspraxis sein kann – wenn der politische Wille da ist.

Dr. Wildberger hat angekündigt, das Vergaberecht reformieren zu wollen, um Innovationen schneller in den Staat zu bringen. Wenn diesen Worten Taten folgen, könnte daraus ein echter Gamechanger werden. Eine souveräne Digitalinfrastruktur beginnt nämlich nicht erst bei den Anwendungen. Sie beginnt bei der Frage, wem wir als Staat das Steuer überlassen.

Europas digitale Zukunft liegt in den eigenen Händen

Der entscheidende Schlüssel zum Erfolg sind enge Kooperationen über europäische Ländergrenzen hinweg. Diese müssen nun gefördert und auch zeitnah geschlossen werden. Anstatt dabei alle Details haarklein vorzugeben, muss die europäische Politik laut Experten einen verbindlichen sinnvollen Rahmen schaffen. Dazu gehören klare Vergaberichtlinien und -vorgaben. Gleichzeitig ist unbürokratischeres Handeln gefragt. Denn noch dauern viele Prozesse deutlich zu lange, was den Großen IT-Konzernen nur allzu Recht ist.

Kurzum: Die Uhr tickt. Je länger Europa zögert, desto größer werden die Abhängigkeiten von außereuropäischen Systemen – mit allen damit verbundenen Risiken für Sicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Demokratie. Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung: Mit politischen Willensbekundungen, neuen Allianzen und wachsender gesellschaftlicher Aufmerksamkeit ist Bewegung ins Thema gekommen.

Jetzt braucht es klare Entscheidungen – und die Bereitschaft, offene Technologien nicht nur zu dulden, sondern gezielt zu fördern. Digitale Souveränität ist kein Ziel, das ein Staat allein erreicht. Aber wenn Europa es ernst meint, dann beginnt der Weg dorthin mit einer einfachen Erkenntnis: Nur wer versteht, wie digitale Werkzeuge funktionieren – und sie selbst gestalten kann – wird auch morgen noch souverän entscheiden können.


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