Was passiert, wenn man KI nicht als Wette auf Wahrscheinlichkeiten, sondern als nachvollziehbares Werkzeug begreift? Dr. Christian Gilcher von Embraceable AI lieferte auf dem Siemens „AI with Purpose Summit“ in München eine konkrete Antwort.
Während viele KI-Unternehmen der Welle der generativen Sprachmodelle hinterherlaufen, geht Embraceable AI (Eigenschreibweise „embraceableAI“) den entgegengesetzten Weg: mit einem System, das auf europäische Werte, Ingenieursdisziplin und Nachvollziehbarkeit setzt. Ein Weg, der sich radikal vom Silicon-Valley-Narrativ unterscheidet. Das Unternehmen wurde 2018 gegründet und ist in Karlsruhe ansässig, mit einer weiteren Betriebsstätte in Mannheim. Aktuell beschäftigt das Unternehmen 21 Mitarbeitende (Stand Mai 2025). Ursprünglich als spezialisierte Beratungsboutique für den regulierten Finanzbereich gestartet, fokussierte sich Embraceable AI früh auf Fragen der Reproduzierbarkeit, Steuerbarkeit und Vertrauenswürdigkeit von KI. Themen, die heute aktueller denn je sind.
Der Gründer und CEO Christian Gilcher, selbst mit langjähriger Erfahrung im IT-Management von Banken, kennt die regulatorischen Fallstricke im Umgang mit KI: „Wenn du nicht belegen kannst, welche Daten, Algorithmen und Umgebungen bei einem Modell zum Einsatz kamen, bewegst du dich im Graubereich zwischen Fahrlässigkeit und Haftung.“ Lösen will Embraceable AI das Problem nicht durch mehr Stochastik, sondern durch sauberes Systemdesign. Dahinter steht ein „Engineering-Mindset“, das sich von der Logik des Machine-Learning-Hypes klar abgrenzt.
Im Zentrum der Technologie von Embraceable AI steht die Trennung von Sprachmodell und Denkprozess. Das Herzstück ist eine Reasoning Engine, die mit marktüblichen Large Language Models (LLM) kombiniert wird. Der Entscheidungsprozess wird nicht dem Zufall des Modells überlassen, sondern folgt einer „Denkschablone“, also einer festgelegten logischen Schrittfolge. Jeder Zwischenschritt wird validiert. Gilcher erklärt: „Nach jedem Denkschritt prüft sich das System selbst – gegen ein Regelsystem wie zum Beispiel Compliance-Richtlinien oder das ursprüngliche Aufgabenbriefing. Der Effekt: Entscheidungen lassen sich technisch, rechtlich und ethisch fundieren. Das verhindert „Drift“, also das schleichende Abweichen von Zielvorgaben, wie es bei probabilistischen LLMs vorkommen kann. Zudem reduziert das System Sicherheitsrisiken, etwa durch halluzinierte Fakten oder ungewollte Tools-Nutzung, wie sie in OpenAIs GPT-4 beobachtet wurden. Embraceable AIs Ansatz der Selbstüberprüfung schaffe hingegen Vertrauen. Nicht durch nachträgliches Prompt-Tuning, sondern durch sauber aufgebaute Prozesse. „Die großen Anbieter versuchen, ein stochastisches Problem mit noch mehr Stochastik zu lösen. Wir lösen es architektonisch und außerhalb des Modells“, betont Gilcher im Gespräch mit connect professional.
Ein zentrales Alleinstellungsmerkmal ist die Umsetzbarkeit: Innerhalb weniger Tage kann Embraceable AI seine Kunden von einer ersten Idee zur funktionierenden Automatisierung führen. „Unser Ziel ist, in einem Zwei-Wochen-Sprint live zu sein, inklusive Konfiguration, Validierung und Integration.“ Ermöglicht wird das durch die technische Architektur von Embraceable AI, die ein LLM mit einer deduktiven Reasoning Engine kombiniert. Diese Plattform bildet die Grundlage für den sogenannten „AI Microworker“– eine von Embraceable AI entwickelte und patentierte Abstraktion eines digitalen Arbeiters, der klar definierte Aufgaben nachprüfbar abarbeitet. Diese Logik wird bereits bei mehreren Kunden eingesetzt, darunter die IHK Stuttgart, einer der größten Energieversorger Deutschlands und die Privatbank Hauck Aufhäuser und Lampe. In der Praxis bedeutet das etwa, dass Nutzer morgens automatisch vorverfasste E-Mail-Antworten prüfen, freigeben oder anpassen können mit vollständiger Entscheidungsdokumentation im Hintergrund. Gilcher betont: „Wir nehmen niemandem den Job weg. Wir machen Arbeit einfacher, effizienter und sicherer.“
Die technische Flexibilität ist ebenfalls ein Pluspunkt: Kunden können wählen, ob sie das System als SaaS, hybrid oder vollständig On-Premises betreiben, inklusive Small Language Models wie Phi-4 oder LLaMA 3, die auf High-End-Consumer-Hardware laufen können. Auch Bring-Your-Own-Cloud-Modelle sind möglich. Voraussetzung sind lediglich Linux-Server und ausreichend Rechenleistung. „Unsere Architektur ist so angelegt, dass sie dort läuft, wo der Kunde es braucht. Ob in der Bank, der öffentlichen Verwaltung oder beim Mittelständler.“ Damit ist Embraceable AI insbesondere für Organisationen mit strikten Datenschutz-, Geheimhaltungs- oder Infrastrukturvorgaben attraktiv. Und noch etwas unterscheidet den „Microworker“ vom inflationär genutzten Begriff „Agent“: „Im Gegensatz zum oft unklar definierten ‚Agent‘ ist ein Worker darauf ausgelegt, gezielt und kontrollierbar das zu tun, was man ihm beigebracht hat – mit einem klaren Ethos und nachvollziehbarem Handeln.“
Ein zentrales Motiv des Embraceable AI-Ansatzes ist das Verhältnis zwischen Vertrauen und Geschwindigkeit. „Du kannst eine KI-Lösung heute schnell skalieren, aber wenn sie nicht nachvollziehbar ist, holt dich das später juristisch oder organisatorisch ein.“ Deshalb setzt das Unternehmen auf vollständige Auditierbarkeit: Jeder logische Schritt, jede Datenquelle und jede Entscheidung sind dokumentiert. Gerade in regulierten Branchen wie Banken, Energie oder öffentlicher Verwaltung ist das nicht optional, sondern überlebenswichtig. Gilcher nennt das Beispiel eines Kunden aus der Energiebranche: „Wenn ein KI-System dort Entscheidungen trifft, die zu einem Produktionsstopp führen, reden wir schnell über Millionenbeträge oder frappante Haftungsfragen.“
Das System unterstützt dabei auch den Datenschutz aktiv: Bereits beim Hochladen von Wissen lässt sich ein personenbezogener Datenfilter aktivieren. Standardmäßig wird auf europäischen Servern gearbeitet, es gibt aber auch Optionen für „Bring Your Own Cloud“, dedizierte Subnetze oder private Leitung via Internetknoten. Gilcher betont: „Technologische Souveränität beginnt dort, wo du Kontrolle über deine Infrastruktur hast.“
„Eine KI, die sich nicht erklären lässt, ist keine Technologie. Sie ist ein Risiko.“ |
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Bisher setzte Embraceable AI auf einen selektiven Vertriebsansatz mit sogenannten Lighthouse-Kunden. Parallel baut das Unternehmen Branchenlösungen mit Partnern, etwa im Handwerkssektor (Kooperation mit Aconium) oder im kommunalen Bereich. Im Zuge des strategischen Pivots zur Produktfirma wurde auch die Kapitalstruktur gestärkt: Nach Jahren der Eigenfinanzierung holte Embraceable AI 2024 die HP Technik aus Karlsruhe, ein Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau, als unternehmerisch geprägten Beteiligungspartner an Bord. Im Hintergrund steht unter anderem ein Netzwerk aus erfahrenen Unternehmern, darunter Personen aus dem Umfeld des HP Technik-Geschäftsführers Henning Elsässer sowie ein großer dänischer Industriekonzern.
Gilcher tritt mit seinem Unternehmen nicht nur technisch, sondern auch politisch motiviert an. „Unser Ziel ist technologische Souveränität für Europa – ohne Abhängigkeit von US- oder chinesischen Hyperscalern.“ Deshalb ist die gesamte Plattform EU-hosted (bei Ionos) und vollständig DSGVO-konform. Namhafte Kunden aus Bankwesen, öffentlicher Verwaltung und kritischer Infrastruktur (IHK Stuttgart) setzen die Lösungen bereits produktiv ein. Der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband plant die Produktivsetzung im Juli 2025. Erfrischend deutlich grenzt sich Gilcher dabei vom Kalifornien-zentrierten KI-Narrativ ab. Während andere dem „First Mover Advantage“ hinterherlaufen, setzt er auf „Verantwortung statt Geschwindigkeit“: „Wenn es um Geschäftsprozesse, Rechtssicherheit oder Menschenleben geht, ist Vertrauen wichtiger als Hype.“
„Nicht die Rechenleistung entscheidet, ob Europa KI-wettbewerbsfähig ist, sondern die Architektur.“ |
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Diese Haltung spiegelt sich auch in seiner Kritik an der Mainstream-Debatte rund um den AI Act wider: „Ich sehe Regularien nicht als Innovationshemmnis, sondern als Benchmark. Wenn du eine KI-Lösung in einem regulierten System zum Laufen bringst, kannst du es überall einsetzen.“ Der AI Act, oft als Innovationshemmnis kritisiert, werde bei Embraceable AI zur Designgrundlage. Dementsprechend richtet sich auch der Blick über Deutschland hinaus: Erste Gespräche mit Kunden in Frankreich und Asien laufen, der Fokus bleibt aber zunächst auf dem europäischen Markt. „Du musst skalieren, aber mit System. Sonst verlierst du dich.“
Die strategische Klarheit prägt auch den technologischen Ansatz: Embraceable AI steht für einen europäischen Gegenentwurf zu klassischen Black-Box-Systemen: nachvollziehbar, steuerbar, vertrauenswürdig. Für Gilcher ist klar: „Wir wollen als Infrastruktur verstanden werden, nicht als eine weitere App.“ Das Portal „embraceable Cloud“ dient dabei als Zugang zur Technologie – egal ob in der Public Cloud, der Private Cloud oder im firmeneigenen Rechenzentrum.
Dr. Christian Gilcher hat mit Embraceable AI eine Architektur geschaffen, die Vertrauen zur Voraussetzung macht, nicht zur Folge. Was auf dem Siemens AI Summit deutlich wurde: Europas Stärke liegt nicht in schierer Rechenleistung, sondern in der Fähigkeit, technologische Komplexität beherrschbar zu machen. Der Ansatz von Embraceable AI beweist: KI muss nicht allmächtig wirken, um wirksam zu sein. Sie muss nicht alles können, aber sie muss alles nachvollziehbar erklären können. In Zeiten wachsender Regulierung, gesellschaftlicher Skepsis und wirtschaftlicher Abhängigkeiten ist das kein Nischenansatz, sondern eine überfällige Antwort. Oder wie Gilcher es selbst formuliert: „Wir bauen keine Zaubermaschine. Wir bauen Werkzeuge – und die müssen zuverlässig sein. Gerade dann, wenn es drauf ankommt.“