Simulated Annealing

Weniger Stop-and-go auf deutschen Datenautobahnen

19. April 2024, 9:00 Uhr | Autor:innen: Franziska Schmidt und Andreas Lattoch / Redaktion: Diana Künstler
© Tomasz/AdobeStock

Betreiber von Mobilfunknetzen werden ihre Netze noch individueller auf die Kundenbedürfnisse einstellen, beispielsweise durch 5G Network Slicing. Umso wichtiger ist es, dass es in der Datenverkehrsführung (Transportnetz) zu keinen Staus kommt. Das Verfahren Simulated Annealing kann unterstützen.

Der Artikel beantwortet unter anderem folgende Fragen:

  • Was ist Simulated Annealing und wie funktioniert es?
  • Warum ist Simulated Annealing für die Optimierung von Telekommunikationsnetzen relevant?
  • Was sind die Vorteile von Simulated Annealing im Vergleich zu anderen Optimierungsmethoden?
  • Gibt es Einschränkungen oder Negativeffekte bei der Anwendung von Simulated Annealing?
  • Wie wirkt sich Simulated Annealing auf die Entscheidungsfindung der Netzplaner aus?
  • Welche Rolle spielt Simulated Annealing bei der Entwicklung zukünftiger Technologien?
  • Wie groß ist die Komplexität bei der Optimierung von Telekommunikationsnetzen?

Jeder kennt die Situation: Telekommunikationsnetze sind punktuell immer wieder überlastet oder verstopft. Das zeigt sich für die Endkunden dann als langsames Internet: Websites brauchen ewig zum Laden, Videostreams reißen ab – und das sind nur die nervigen Auswirkungen im Alltag. Fatal wäre es, wenn aufgrund verstopfter Datennetzte kritische Infrastruktur (KRITIS) im Energiesektor oder in Krankenhäusern gestört wird oder ausfällt. Im Daten- und Telefonverkehr gibt es keine globale dynamische Verkehrsführung à la Google Maps in Echtzeit. Die Wegeführung wird vielfach beim Netzdesign fest eingestellt. Lediglich bei einer Voll-sperrung werden alternative Wege durch die Routing-Protokolle genommen, nicht aber um Staus zu umfahren. Diese Dynamik der Netzsteuerung wird allerdings kommen, weil sie gebraucht wird. Im Prinzip möchten Telekommunikationsunternehmen immer und für jeden Nutzer eine stabile und angemessene Performance bieten. Das ist einfacher gewollt als getan. Und zwar, weil die Netze so komplex sind.

Zum Verständnis: Telekommunikationsnetze sind hierarchisch organisiert. Es gibt lokale und regionale Knotenpunkte mit extrem vielen Verbindungen und geringer Bandbreite (Mobile Access Network). Und es gibt eine Hierarchiestufe darüber: überregionale und nationale oder sogar internationale Knotenpunkte mit weniger Verbindungen, höherer Bandbreite und geringerer Latenz (Mobile Aggregation Network). Ein Mobile Aggregation Network fungiert dabei als eine Art Amazon- oder DHL-Verteilzentrum, nur eben für Datenpakete. Die Mobile Access Networks liefern Datenfracht an die Mobile Aggregation Networks und diese dann per Expressluftfracht (Internet) an ein anderes Verteilzentrum, das wiederum Mobile Access Networks in seiner Umgebung versorgt oder Datenpost entgegennimmt.

Diese beiden Netzwerkhierarchien – vergleichbar mit einspurigen Datenlandstraßen und mehrspurigen Datenautobahnen – bilden ein stark verzweigtes Netz. Jedes Mobile Access Network wird im Idealfall einem Mobile Aggregation Network in der Nähe zugeordnet, um Datenpakete möglichst schnell ans Ziel zu bringen. Zudem werden ihnen weitere Datenverteilzentren als Backup oder Sonstiges zugeordnet.

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Grafik Datenüberlastung
Beispiel für ein nichtoptimiertes Netz mit überlasteten Verbindungen: Rot steht für Staus in der „Datenautobahn“; bei Grün haben alle Daten freie Fahrt oder sie nehmen Verbindungswege mit  geringerer Auslastung (orange und gelb).
© Sopra Steria

Die Datenverkehrsführung ist in diesem weitverzweigten Netz mit vielen Autobahnen und noch mehr Landstraßen eine hochkomplexe Angelegenheit. Bei hohen Auslastungen müssen Daten schnell zum nächstbesten Aggregationsnetz geleitet werden. Alte RoutingProtokolle machen das allerdings nicht automatisch. Die Folge: Verstopfungen. Diese lassen sich durch Netzerweiterungen lösen, aber Baumaßnahmen dauern. Eine schnelle Zwischenlösung ist, den Verkehr durch kluge Netzplanung umzuleiten und zu optimieren.

Die Datenpakete sollen dabei so wenige Umwege wie möglich nehmen müssen. Ziel der Netzingenieure ist, Staus (rot) zu verhindern. Im besten Fall haben alle Daten freie Fahrt (grün) oder sie nehmen Verbindungswege mit geringerer Auslastung (orange und gelb). Um den Datenverkehr mit einfachen Routingprotokollen wie OSPF (Open Shortest Path First) und ISIS (Intermediate System to Intermediate System) zu optimieren, müssen die Netzbetreiber die Auslastung der Netze flächendeckend überwachen und ständig verbessern.

An der Rechenaufgabe „Netzoptimierung“ beißen sich jedoch herkömmliche geschlossene Berechnungsverfahren die Zähne aus. In einem typischen Netz müssten die Netzbetreiber aus etwa 1,7 x 10 hoch 30 Kombinationen (Beispiel für die Detailrechnung auf der Folgeseite) die am besten passende auswählen. Das entspricht etwa einer Billiarde mal einer Billiarde Kombinationsmöglichkeiten. Mit der sogenannten Brute-Force-Methode, bei der alle möglichen Kombinationen durchgespielt werden, würden selbst Hochleistungsrechner circa eine Billiarde Jahre benötigen.

Simulated Annealing zieht der Komplexität den Zahn

Alles zu testen, ist somit keine praktikable und wirtschaftliche Lösung. Das ist auch nicht unbedingt erforderlich. Es gibt stochastische Verfahren, die mit einer geringeren Anzahl getesteter Varianten zu brauchbaren Ergebnissen kommen, und das in Minuten. Eines dieser Verfahren ist Simulated Annealing (wörtlich: simuliertes Ausglühen, angelehnt an den Abkühlungsprozess von Metall). Im Grunde arbeitet Simulated Annealing mit Wahrscheinlichkeiten und nähert sich so einem wirtschaftlich und qualitativ besseren Ergebnis im Vergleich zur Nichtoptimierung. Ein solcher Algorithmus wird bei Routenplanern eingesetzt. Deshalb eignet sich die Methode auch für die Optimierung von Verkehrsflüssen in Telekommunikationsnetzen.

Netzbeispiel zum Nachrechnen

In dem fiktiven Beispielnetz benötigen 17 Mobile-Access-Network-Router je einen Main-, Backup- und Other-Router. Für die Wahl des Main-Routers stehen fünf Mobile-Aggregation-Network-Router zur Auswahl, für die Wahl des Backup-Routers die noch übrigen vier und für die Wahl des Other-Routers die verbleibenden drei Router.

Daraus ergeben sich 5 x 4 x 3 = 60 Kombinationsmöglichkeiten.

Diese Rechnung muss mit insgesamt 17 Mobile-Access-Network-Routern durchgeführt werden. Die entsprechende Auswahl ist dabei für jeden Router unabhängig von der Auswahl für alle anderen Router – also 60 voneinander unabhängige Möglichkeiten für 17 Mobile-Access-Network-Router.

Das sind insgesamt 6017 = 1.692.665.944.473.600.000.000.000.000.000 Möglichkeiten und entspricht circa 1,7 x 1030 Kombinationen.

Im Mittel alles im Fluss, aber im Einzelfall längere Wege

Und das aus gutem Grund: In einem Test mit echten Daten aus einem Netzwerk von mindestens der Größe Nordrhein-Westfalens konnte die maximale Auslastung von mehr als 80 Prozent auf circa 44 Prozent reduziert werden, also um rund 35 Prozent. Netzplaner kommen damit ihrem Ziel näher, Datenstaus schnell aufzulösen und keine roten Routen in ihren Netztopografien mehr zu sehen.
 

Grafik ohne Datenüberlastung
Beispiel-Netzwerk ohne Überlastung: keine Staus in der „Datenautobahn“
© Sopra Steria

Netzplanern sollte aber klar sein, dass sie damit nicht die ultimative Lösung für alle Optimierungsprobleme in der Hand halten: Simulated Annealing ist eine Übergangslösung und ersetzt nicht die Arbeit der Bautrupps, Kapazitäten zu erweitern und anzupassen. Und es gibt Negativeffekte, die Netzmanager berücksichtigen müssen: Um gezielt Staus an Knotenpunkten aufzulösen, sind einzelne Pakete unter Umständen länger auf der Datenlandstraße unterwegs als vor der Optimierung – potenziell zum Nachteil für einzelne Netznutzer, obwohl alle Datenpakete in Summe schneller durchs Netz kommen.

Technisch ausgedrückt, kann die Latenz somit für den Einzelnen kurzzeitig steigen. Die „normalen“ E-Mail-Schreiber oder Streaming-Kunden wird das nicht groß beeinträchtigen, Echtzeitanwendungen in modernen 5G-Netzen allerdings schon. Netzwerk-ingenieure bleiben also gefordert und der Netzausbau ist unumgänglich.

Eine Simulated-Annealing-Lösung ist eine wirksame Hilfe für temporäre Engpässe und zudem eine gute datenbasierte Entscheidungshilfe. Sie unterstützt beispielsweise das Reporting bei der Frage, ob eine andere Lösung besser ist. Netzplaner können somit gezielter und schneller entscheiden, welche Netzoptimierungsschritte am sinnvollsten sind.

Freie Fahrt für Zukunftstechnologien

Fanziska Schmidt und Andreas Lottach, Sopra Steria
Franziska Schmidt ist Data Science Consultant bei Sopra Steria. Andreas Lattoch ist Senior Lead Architect Telecommunications, Media & Technology, bei Sopra Steria.
© Sopra Steria

Netzbetreiber profitieren im Ergebnis, denn sie verschaffen ihren Kunden ein besseres Netzempfinden und sie steigern das Vertrauen in die Netzstabilität – alles keine unwichtigen Faktoren in einem harten Wettbewerb um Kunden.

Darüber hinaus schöpfen sie das Potenzial ihrer Netze aus und werden damit noch stärker zu „Enablern“ für Innovationen, die extrem gute und stabile Bedingungen erfordern und für die selbst kurze Netzüberlastungen weitreichende Folgen haben würden.


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