Massen digitaler Daten werden in Zukunft in Archive eingespeist oder entstehen als Begleitprodukt der Forschung. Mit Eintags-Lösungen, wie sie die IT-Industrie bisher produzierte, ist der Aufgabe, sie dauerhaft zu speichern, nicht beizukommen.
Im Bundesarchiv zu Koblenz, das per Gesetzesauftrag (siehe Kasten) Informationen aus Deutschland sammelt, können Interessenten digitales Material aus den 70er Jahren einsehen. Das gilt in der Welt der Bits und Bytes schon als Ewigkeit. Schließlich beträgt die Lebensdauer eines Speicherformats oft weniger als zwei Jahrzehnte. Damit für unsere Kultur nicht eines Tages das Brecht-Zitat »Von uns wird bleiben: nichts Nennenswertes« gilt, wird es höchste Zeit, koordinierte und gezielte Anstrengungen zu unternehmen. Denn der Aufbau von digitalen Archiven, die selbst Jahrhunderte oder wenigstens viele Jahrzehnte überdauern können, kostet Geld und Zeit, ganz abgesehen davon, dass bisher keine zuverlässigen Verfahren dafür existieren. Es muss also etwas geschehen, und zwar schnell. Das haben die Mitglieder des vor rund drei Jahren ins Leben gerufenen Kompetenznetzwerks Langzeitarchivierung, kurz Nestor, im Gegensatz zu vielen anderen bereits begriffen. Der Verbund sieht sich als »Allianz für Deutschlands digitales Gedächtnis«. Dazu gehören illustre »Gedächtnisorganisationen«, wie sich die Akteure selbst bezeichnen. Das lockere Netzwerk von Fachleuten begnügte sich während seiner bisherigen Lebensdauer mit einem Zuschuss von einer Million Euro aus der Bundeskasse. In diesem Jahr läuft die Bezuschussungsfrist für Nestor ab und es muss entschieden werden, wie es weitergeht. Aus diesem Grund trafen sich Archivierungsfachleute im Juni zu einer Tagung in der Deutschen Bibliothek, Standort Frankfurt, wo die Nestor-Projektleitung ihren Sitz hat. »Wir brauchen für Nestor eine tragfähige organisatorische, finanzielle und personelle Struktur«, forderte Ute Schwens von der Deutschen Bibliothek. »Bisher wurde hier viel ehrenamtliche Arbeit geleistet.« Nestor betreibt im Internet eine mit 5000 Seitenzugriffen monatlich durchaus gut besuchte Webpräsenz (www.langzeitarchivierung.de), erarbeitete in diversen Arbeitsgruppen Basismaterialien und veranstaltete Tagungen.
Defizit in Sachen Langzeitarchivierung
Während dieser Treffen stellte sich heraus, wie groß das Defizit in Sachen Langzeitarchivierung tatsächlich ist: Keiner weiß genau, wie mit den digitalen Datenmassen umzugehen ist. Das fängt schon damit an, welche Dateiformate man am besten zur Speicherung welches digitalen Formats verwendet. »Nicht nur Archive haben das Problem, auch Museen erzeugen bei Forschung und Dokumentation jede Menge digitaler Daten und müssen sie speichern«, betonte Monika Hagedorn-Saupe vom Institut für Museumskunde, Berlin.
Technik für Unternehmen hilft nicht
Technik für Industrie und Unternehmen, in denen wegen hohen Speicherbedarfs und gesetzlicher Anforderungen seit einiger Zeit das Stichwort ILM (Information Lifecycle Management) grassiert, ist nicht ausreichend für diese Zwecke. Reicht doch ihr Zeithorizont in der Regel höchstens bis zum Ende steuerlich oder haftungsrechtlich relevanter Aufbewahrungsfristen. Es bleibt also den Hütern des digitalen Gedächtnisses überlassen, sich eigene Gedanken machen, um dem kulturellen Alzheimer vorzubeugen. Das tun sie inzwischen auch recht erfolgreich. So präsentierte Nestor in Frankfurt gleich zwei Papiere, die Archivierungsgeschichte schreiben könnten:
- das »Memorandum zur Langzeitverfügbarkeit digitaler Informationen in Deutschland« (http://www. langzeitarchivierung.de/downloads/ memo2006.pdf). Es beschreibt Rahmenbedingungen, Probleme und Zielsetzungen der Archivierung digitaler Objekte in Deutschland.
- der »Kriterienkatalog digitale Langzeitarchivierung«, der als RFC (Request for Comment), also mit der Bitte um öffentliche Kommentierung, im Internet veröffentlicht (http://edoc.hu-berlin.de/series/ nestor-materialien/2006-8/PDF/8. pdf) wurde.
Das erste Papier bewegt sich in den luftigen Höhen der Grundsätze. Es spricht von einer »Aufgabe nationaler Bedeutung«, die in »allen relevanten Bereichen der Gesetzgebung unbedingt zu berücksichtigen« sei. Es gelte, eine »nachhaltige Koordinationsstruktur« zu schaffen. Die Informationsauswahl digitaler Archive müsse das gesamte Spektrum digitaler Daten einbeziehen, die Auswahl transparent erfolgen und die Daten langfristig verfügbar bleiben, sodass sie in den »Kontext der Überlieferung von Information« passen. Vorrangig gehe es darum, die Inhalte digitaler Informationen zu erhalten und entsprechende Recherchemöglichkeiten zu schaffen. Die Technik solle entsprechend ausgestaltet sein. Schließlich fordert das Memorandum dringlich verstärkte nationale und internationale Diskussionen zum Thema, ausreichend Geld und Personal sowie die Ausrichtung aller Bemühungen an den Interessen der Nutzer der archivierten Informationen.
Signal der Bundesregierung
Das klingt einfacher als es ist. Doch immerhin signalisierte die Bundesregierung in Frankfurt, repräsentiert durch Dr. Monika Schidorowitz, Bundesministerium für Bildung und Forschung, dass auch die Politik nach wie vor an dem Thema interessiert ist: »Die langfristige Verfügbarkeit digitaler Ressourcen ist ein wesentlicher Faktor für die Konkurrenzfähigkeit des Bildungs- und Wissenschaftssystems und damit auch der Wirtschaft in Deutschland«, sagte sie. Es gibt also begründete Hoffnung, dass der Folgeantrag von Nestor, der sich auf 1,5 Millionen Euro Förderung für die nächsten drei Jahre beläuft, bewilligt wird. Damit wäre immerhin die weitere Arbeit des Netzwerks gesichert. Wie aber sollen die vielen kulturellen Gedächtnisträger, zu denen noch zahlreiche Archive von Wirtschaftsverbänden, Industriebranchen et cetera kommen, nun vorgehen, wenn sie die Archivierung als ihre Aufgabe erkannt und akzeptiert haben? Diesem Thema widmet sich das zweitgenannte Papier.
Viel zu tun in den nächsten Nestor-Jahren
Es orientiert sich an der bei der Archivierung von Kulturdaten international üblichen Terminologie und entsprechenden Konzepten, wie sie in OAIS (Open Archival Information System), einem internationalen Bibliothekenstandard, festgeschrieben sind. Die einzelnen, sehr abstrakt gefassten Regeln für Aufbau und Unterhalt der Archive, werden mit Beispielen aus den diversen Bereichen der Archivierung unterfüttert – schließlich soll das Konzept allen Arten von Gedächtnisorganisationen als Arbeitshilfe dienen. Die diversen Forderungen und Grundsätze befassen sich nicht nur mit Technik, sondern auch mit organisatorischen und personellen Voraussetzungen einer sicheren Langzeitarchivierung. Wie weitsichtig die Autoren sind, zeigt Abschnitt 8, der sich mit langfristiger Planung von Archiven befasst – und offensichtlich auch damit, was geschieht, wenn der Strom einmal knapp werden sollte oder die digitalen Speichermedien zu teuer. Dort heißt es bei Umsetzungsbeispielen lapidar: »Als Langzeiterhaltungsmaßnahme kann sich …die Ausgabe auf analoge Medien (z.B. Mikrofilm) …und spätere Redigitalisierung anbieten.« Letztlich strebt Nestor den Aufbau einer Instanz an, die digitale Langzeitarchive anhand der im Katalog ausformulierten Kriterien zertifizieren kann. Die Inhaber des Zertifikats wüssten sich dann hinsichtlich ihrer Datensammlung auf der richtigen Seite. Alle Details hinsichtlich Träger und Finanzierung sind aber vorläufig völlig offen. Zudem sollen die bisherigen Initiativen stärker mit dem Wissenschaftsbetrieb im naturwissenschaftichen und Grid-Computing-Bereich verknüpft werden. Dort entstehen ebenfalls immense Datenmassen, die es irgendwie aufzubewahren gilt, wenn die Forschung nicht umsonst gewesen sein soll. Es gibt also viel zu tun in den nächsten Nestor-Jahren.