EU-Beitritt stärkt den osteuropäischen IT-Markt. Mit Standortvorteilen locken die neuen osteuropäischen EU-Länder erfolgreich westliche Investoren. Als Absatzregion ist Osteuropa für die IT-Branche nur ein kleiner, aber immerhin wachstumsstarker Markt. Die Ausgaben für IT differieren je nach Land zum Teil erheblich. Eine Präsenz vor Ort und lokale Partnerschaften erhöhen die Absatzchancen für westliche IT-Firmen. Der EU-Beitritt wird vor allem das Offshore-Geschäft mit dem Osten beflügeln.
Am 1. Mai 2004 wird die EU um acht Länder aus Osteuropa sowie Malta und Zypern erweitert, ab 2007 sollen Bulgarien und Rumänien folgen. Aber nicht erst wenn die Grenzen endgültig fallen, öffnet sich für westliche IT-Firmen ein lukrativer Markt. Es sind vor allem die Standortvorteile im Osten, die derzeit für Schlagzeilen sorgen: Globalisierung von Arbeitsplätzen, Investitionsanreize, Steueroasen, Offshore-Kapazitäten. Bereits im Vorfeld des EU-Beitritts sorgt beispielsweise die Verlagerung von Jobs in die Billiglohnländer des ehemaligen Ostblocks für Aufsehen. So betreibt Hersteller Dell schon seit längerem sein europäisches Call-Center im slowakischen Bratislava. Siemens könnte schon bald folgen. Wie kürzlich bekannt wurde, tragen sich die Münchener mit dem Gedanken, rund 10.000 Stellen ins kostengünstige China oder Osteuropa zu verlegen.
Etablierte IT-Konzerne schätzen in Ländern wie Polen, Tschechien und den Baltischen Staaten aber nicht nur das günstige Lohnniveau für die dort in ausreichender Zahl vorhandenen IT-Spezialisten, sondern auch Subventionen und erhebliche Steuererleichterungen, mit denen die neuen EU-Mitglieder für Investitionen bei westlichen Firmen werben. Während in Deutschland die durchschnittlichen Steuersätze für Firmen rund 38 Prozent betragen, liegen sie im Baltikum, Ungarn und Slowakei zum Teil deutlich unter 20 Prozent, wie das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln ermittelte. Im Wettbewerb um den lukrativsten Standort lockt Estland sogar mit einer Steuerbefreiung auf Gewinne, falls diese im angesiedelten Unternehmen verbleiben und nicht an die Anteilseigner ausgeschüttet werden. Als neue Steueroase des Ostens verdrängen die Esten sogar das bisher führende Irland, das mit einem Körperschaftssteuersatz von 12,5 Prozent bereits vor Jahren zahlreichen ausländischen Firmen die grüne Insel schmackhaft machte.
Von der »Fusion der Ungleichen«, wie Marktforscher von IDC den Zusammenschluss zwischen den osteuropäischen Länder und den 15 westlichen Staaten zur EU nennen, profitieren in erster Linie westliche Firmen, die sich mit der Verlagerung ihrer Kapazitäten erhebliche Kosten- und somit Wettbewerbsvorteile versprechen. Als Absatzmärkte für die ITK-Branche geben die neuen Beitrittsländer aber noch nicht allzu viel her. Zwar wächst die Zahl der EU-Bevölkerung von derzeit 380 Millionen um 105 Millionen (einschließlich der für 2007 geplanten Aufnahme von Bulgarien und Rumänien), die IT-Investitionen in den zwölf neuen Staaten betrugen 2002 laut IDC im Durchschnitt lediglich 91 US-Dollar pro Kopf, im Gegensatz zu 635 Dollar in den bisherigen 15 EU-Staaten. Allerdings übertreffen Tschechien, Slowenien und Ungarn bei den IT-Ausgaben pro Kopf die restlichen Länder Osteuropas deutlich (siehe Länderübersicht in der Printausgabe).
Folglich lag das gesamte ITK-Volumen in den zehn neuen EU-Staaten, einschließlich der 2007 zur EU beitretenden Länder Bulgarien und Rumänien, im vergangenen Jahr bei 10,42 Milliarden Dollar oder 1,2 Prozent der weltweiten ITK-Ausgaben. Nicht viel, im Vergleich zum Westen Europas mit einem Volumen von 241 Milliarden Dollar und einem Weltmarktanteil von knapp 28 Prozent. »Die ITK-Ausgaben in den zwölf EU-Mitgliedsländern entsprechen insgesamt knapp den IT-Investitionen in Spanien«, zieht denn auch IDC-Analyst Steven Frantzen einen ernüchternden Vergleich.
Angesichts der geringen Wirtschaftsleistung verwundert das niedrige Niveau der IT-Ausgaben nicht, allerdings haben die Länder Osteuropas einen starken Nachholbedarf an Hard- und Software, so dass die Wachstumsraten dort entsprechend höher sind als im Westen. IDC geht davon aus, dass die IT-Ausgaben in den neuen EU-Ländern in den nächsten zehn Jahren jährlich um knapp über zehn Prozent steigen werden. Gegenwärtig geben diese Staaten mehr als doppelt so viel für IT aus als die Länder Westeuropas, wo sich die IT-Branche mit einem Wachstum von deutlich weniger als fünf Prozent bescheiden muss.
Derzeit wenden die Staaten im Durchschnitt knapp zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für IT auf, ein knappes Prozent weniger als Westeuropa. Einen entscheidenden Einfluss auf das Gesamtvolumen der ITK-Ausgaben in Osteuropa hat also vor allem das künftige Wirtschaftswachstum in diesen Ländern. Aber nicht nur: Der Milliarden schwere Geldsegen aus Brüssel wird sich zusätzlich auf die IT-Investitionen durchschlagen. IDC rechnet damit, dass zwischen einem und acht Prozent der direkten Hilfen der EU IT-Projekten zugute kommen könnten.
Vor allem Investitionen in Hardware, wie PCs, Server, Netzwerke und Peripheriegeräte, haben in den Länden Osteuropas im vergangenen Jahr deutlich zugelegt. Fast die Hälfte aller IT-Ausgaben fiel in diesen Bereich, während der Anteil von Hardware-Investitionen in Westeuropa bei lediglich 30 Prozent lag. Hardwarehersteller dürfen also weiter auf gute Geschäfte in Osteuropa blicken, weniger lukrativ ist der Markt hingegen für IT-Dienstleister: Der Anteil von IT-Services an den gesamten IT-Investitionen lag in den Beitrittsländern bei lediglich 29 Prozent, im Vergleich zu fast 45 Prozent in den bisherigen Ländern der EU. Bei Investitionen in Software liegen beide Regionen mit einem Anteil von rund einem Fünftel nahezu gleichauf.
»Die Relationen zwischen den Bereichen Hardware, Software und Services werden sich nur sehr gering verändern«, glaubt Analyst Frantzen. Insbesondere der im Vergleich zum Westen geringe Anteil von IT-Services dürfte in Osteuropa auch in Zukunft nicht signifikant wachsen, da der Druck auf osteuropäische Firmen nicht so stark lastet, ihre Kosten etwa durch IT-Outsourcing zu senken. Die dortigen Firmen können auf genügend einheimische IT-Spezialisten für ihre Inhouse-Lösungen zurückgreifen.
Österreich gilt traditionell als Tor zum Osten, von wo aus multinationale Konzerne ? darunter Hewlett-Packard, Siemens und IBM ? ihre Geschäftsaktivitäten in Osteuropa schon seit längerem koordinieren. Doch der Brückenkopf droht nun zu erodieren, wie die Unternehmensberatung Boston Consulting feststellte, da die Konzerne zunehmend Arbeitsplätze in die kostengünstigen Nachbarstaaten im Osten verlagern. Die direkte Präsenz vor Ort ist aber auch aus anderen Gründen wichtig: Sie stärkt die Absatzchancen und steigert den Bekanntheitsgrad.
Letzteres haben namhafte Konzerne zwar nicht unbedingt nötig, weniger bekannte IT-Firmen hingegen sollten unbedingt vor Ort Flagge zeigen, meint Michael Ihringer. Der für das Marketing in Zentral- und Osteuropa zuständige Manager des Datenbankherstellers Intersystems, der eine Niederlassungen in Tschechien hat, kennt die Eigenheiten des Markts und ? fast noch wichtiger ? die Empfindlichkeiten der dortigen Kunden. »Es kommt nicht gut an, wenn eine Firma in Tschechien Geschäfte machen will, die Filiale aber in Österreich oder Polen ist.« Zudem sollten Firmen den Weg über örtliche Partner wie Systemhäuser und Integratoren suchen, die bereits einen Kundenstamm haben.
Steht der Vertriebskanal im Osten, können bisweilen die Unterschiede in der Mentalität einen unerfahrenen Key-Accounter um den Verstand bringen. Kommt dieser trotz vorbildlicher Präsentation und einhelliger Zustimmung des Kunden nicht so recht voran, hilft oft ein informelles Treffen ? am besten bei einem Glas Budweiser. Denn »kritische Punkte werden bei offiziellen Meetings nicht angesprochen«, weiß Ihringer.
Anders in Russland: Dort werden die Produkte »regelrecht auseinander genommen« und jede Funktion beanstandet, die nicht so läuft, wie es sich der Kunde vorstellt, »auch wenn sie gar nicht benötigt wird«.
Um den Bekanntheitsgrad seiner Software zu erhöhen, der durch Raubkopien bereits gut etabliert ist, geht Intersystems den Weg über Multiplikatoren wie Universitäten. Die noch studierenden, künftigen IT-Entscheider können die Datenbankprodukte des US-Herstellers aus Cambridge nach Herzenslust und vor allem kostenfrei nutzen.
Dass das IT-Know-how auch im Land bleibt, dafür wollen die Offshore-Anbieter aus Osteuropa sorgen. Im Wettbewerb mit anderen Billiglohnländern wie Indien, Mexiko oder Brasilien könnte der EU-Beitritt die osteuropäischen Softwareschmieden stärken. Aus der Sicht des IT-Beratungsunternehmens Skilldeal wäre diese Entwicklung zu begrüßen, denn die Berliner arbeiten mit zahlreichen Partnern aus Osteuropa zusammen und treten deutschen Kunden gegenüber als Vermittler und Generalunternehmer auf, wenn diese ihre IT-Projekte an ausländische Offshore-Anbieter auslagern wollen.
»Europäische Firmen werden in den nächsten Jahren verstärkt mit Unternehmen aus Mittel- und Osteuropa im IT-Bereich zusammenarbeiten und können so ihre Wettbewerbsposition langfristig stärken«, ist sich Vorstand Timm Beyer sicher. Deutsche Kunden sind zwar noch überwiegend skeptisch, IT-Projekte wie Softwareentwicklung und Programmierung in die Hände osteuropäischer Firmen zu legen, was vor allem auf die mittelständische Klientel zutrifft. Dennoch stellt Bayer eine grundsätzliche Bereitschaft bei Endkunden fest, Offshore-Anbieter aus Osteuropa nutzen zu wollen. Die besten Chancen hätten Beyer zufolge solche IT-Firmen, die je nach Projekt rund zwei Drittel der Aufgaben vor Ort beim Kunden leisten und für die restlichen Arbeiten auf einen Offshore-Dienstleister zurückgreifen. In ferner Zukunft seien sogar Zusammenschlüsse zu Joint Ventures für größere Projektvolumina denkbar.
Einen Ausverkauf der gut ausgebildeten IT-Fachkräfte in den EU-Beitrittsländern, die das hohe Lohnniveau im Westen mit sich bringen könnte, hält Beyer eher für unwahrscheinlich. Die bisherigen EU-Staaten haben der freien Wahl des Arbeitsplatzes ? zumindest vorerst ? einen Riegel vorgeschoben und können die Arbeitsplatzerlaubnis verweigern. Allerdings auf nur maximal sieben Jahre, danach kommen auch die neuen EU-Bürger Osteuropas in den Genuss der uneingeschränkten Freizügigkeit.
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