Zukunftstechnologien für die Gegenwart

6. Mai 2004, 0:00 Uhr |

Zukunftstechnologien für die Gegenwart. Mit den Methoden eines Hippokrates haben die der heutigen Ärzte nicht mehr viel gemein. Wir schreiben das Jahrtausend der IT-Medizin. Sie vollbringt Wunderwerke. Ersetzen kann sie den Arzt, von dem nach wie vor hohes fachliches und menschliches Ethos erwartet wird, jedoch nicht.

Zukunftstechnologien für die Gegenwart

Brainlab Vector Vision ermöglicht dreidimensionale Navigation am Bildschirm.

Foto: Brainlab

Wer glaubt, Innovationen in der Medizin beschränkten sich auf die Entschlüsselung des genetischen Codes und die Entwicklung neuer Medikamente, irrt. Ausgerechnet die Informationstechnologie war und ist es, die der Branche einen ungeheuren Schub verpasst (hat). Längst haben etwa visualisierende Softwareprogramme, Chip-Technologien, die die Speicherung von Milliarden Informationen in Miniaturgeräten ermöglichen und intelligente Netzwerke in Kliniken und Operationssälen Einzug gehalten.

Einen der wohl größten Fortschritte erreichte die Hightech-Medizin bei der computergestützten Visualisierung und Navigation. Während Computertomografie (CT) oder Kernspin nur zweidimensionale Schichtaufnahmen beispielsweise vom Kopf oder der Wirbelsäule ermöglichen, hat das bayerische Medizintechnik-Unternehmen Brainlab nicht zuletzt mit Hilfe der Informationstechnologie eine Möglichkeit geschaffen, diese Aufnahmen zu einem dreidimensionalen Abbild zusammenzufügen. Zur Anwendung kommt das Verfahren, das im Rahmen der Produkte Vector Vision und der Brainsuite eingesetzt wird, unter anderem bei der Entfernung von Gehirntumoren. In dieser 3D-Rekonstruktion kann der Chirurg navigieren. Konkret: "Auf einem Bildschirm wird dem Operateur virtuell dargestellt, wo sich seine Instrumente aktuell zum Beispiel innerhalb des Gehirns befinden und wie er den Tumor am wenigsten invasiv erreichen kann", erklärt Dominik Schäfer, Sales Manager für die Neurochirurgie bei Brainlab. Diese Simulationen erfordern im ersten Schritt eine "Registrierung" des Patienten, durch welche die virtuelle 3D-Darstellung und der reale Patient im OP in Kongruenz gebracht werden. Reflektierende Markerkugeln sind fest mit dem Kopf verbunden, so dass jede Lageveränderung des Patienten und die Bewegung von (mit Markern ausgestatteten) Instrumenten über zwei Infrarotkameras millimetergenau am Monitor dargestellt werden kann. Das technische Prinzip dahinter wurde übrigens der GPS-Navigation entliehen: Satelliten (hier die Kameras), die in einem genau definierten Verhältnis zueinander stehen, erkennen Sender auf der Erde (hier die Markerkugeln). Über Berechnungen kann dann die genaue Position im Raum bestimmt werden (siehe Foto oben links).

Möglich ist aber auch noch mehr: Brainlab hat den ersten vollintegrierten High-Tech-Operationssal mit intraoperativem Kernspin-Tomografen, die so genannte Brainsuite konstruiert. Die Patientenbilder werden während der Operation aktualisiert und automatisch an die Vector-Vision-Navigation weitergegeben. Dadurch kann der Chirurg kontrollieren, ob alle bösartigen Gewebeteile entfernt wurden. "Das verringert die Zahl von Reoperationen", erklärt Schäfer. Darüber hinaus lässt die Brainsuite eine Vielzahl neuer Forschungs- und Operationsmethoden zu (siehe Foto unten).

Brainsuite - der High-Tech-OP der Zukunft.

Foto: Brainlab

Software unterstützt Kiefer-OPs

Die computergestützte Navigation spielt ihre Vorteile jedoch nicht nur etwa bei der Operation von Gehirntumoren und Bandscheibenvorfällen aus. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Informatikern, Ingenieuren und Ärzten hat Ende 2001 in einem ehemaligen Operationssaal der Charité in Berlin eine Software mit dem Ziel entwickelt, das "unsichtbare" Vorgehen im Kieferknochen während der Behandlung zu visualisieren. Herausgekommen ist dabei "Robodent", ein computergestütztes Navigationssystem. Zunächst wird vom betreffenden Kiefer des Patienten eine Computertomografie erstellt. "Die so gewonnenen Daten rechnet die Robodent-Software in ein spezielles 3D-Modell um. Anhand dieses Modells legen die Kieferchirurgen bereits vor der Operation die optimalen Stellen für die Bohrlöcher im Kiefer fest", erklärt Dirk Schauer, Produktmanager bei Robodent. Bei der OP erhält der Patient ein Mundstück, das mit je einem Reflektor für die drei Raumdimensionen ausgestattet ist (siehe Foto). Von der Navigationskamera werden die reflektieren Infrarotstrahlen aufgefangen und von Robodent an den Computer weitergeleitet. Aus diesen Informationen errechnet er die genaue Position des Bohrers. In Echtzeit zeigt Robodent dem Chirurgen die betreffende Stelle auf einem Bildschirm an. So kann er Winkel und Abstand des Bohrers zu den empfindlichen Nerven im Kiefer ständig ablesen. Kommt der Bohrer dem Nerv zu nahe, warnt Robodent den Operateur akustisch. Mit dem neuen Infrarot-Sensorsystem sollen sich die Bohrer laut Herstellerangaben auf den Zehntelmillimeter genau ausrichten lassen.

Robodent visualisiert das "unsichtbare" Vorgehen im Kieferknochen während der Behandlung.

Foto: Robodent

Millimetergenaue Bestrahlung

Um Genauigkeit im Millimeterbereich geht es auch bei neuen Verfahren, Tumore so zu bestrahlen, dass möglichst wenig gesundes Gewebe durch diese Therapieform verletzt oder gar zerstört wird. Mit Novalis hat die Medizintechnik-Firma Brainlab mit Sitz in Heimstetten bei München ein solches System entwickelt. Es besteht aus einem Planungsmodul, das zunächst Kernspin-, CT-Daten oder andere Schichtaufnahmen einliest. Der Arzt erkennt so, wo genau sich beispielsweise tumoröses Gewebe befindet. "Mit Hilfe der Planungssoftware lässt sich ganz genau festlegen, an welcher Stelle und in welcher Stärke die Strahlen des in Novalis integrierten Linearbeschleunigers ankommen sollen", erklärt Brainlab-Sales- Manager Dominik Schäfer. Auf den Photonen-Beschleuniger montiert ist der so genannte Micro-Multileaf Collimator (siehe Foto unten). Er setzt die Daten der Planungssoftware exakt so um, dass sich die Konzentration der Strahlen aus mehreren Richtungen millimetergenau nur auf den Tumor richtet. Nur im Schnittpunkt dieser Strahlen wird tumoröses Gewebe zerstört. Das Bild zeigt deutlich, dass ein Karzinom nicht unbedingt rund und ebenmäßig sein muss, sondern die verschiedensten Formen und Abmaße annehmen kann.

Der Micro-Multileaf Collimator sorgt dafür, dass haargenau nur der Tumor in entsprechender Stärke bestrahlt wird.

Informationstechnologie im Kleinformat

In Miniaturform präsentiert sich Informationstechnologie ebenfalls bei den Herzschrittmachern der Medizintechnik-Firma Medtronic. Viele Patienten leiden neben der Herzinsuffizienz unter häufig auftretenden Phasen mit lebensbedrohlich beschleunigtem Herzschlag. Implantierbare Defibrillatoren (Implantable Cardioverter-Defibrillator, ICD) können die Sterblichkeit bei Patienten mit Reizleitungsstörungen verringern. Medtronic stellt etwa mit InSync III ein implantierbares Gerät zur Verfügung, das die so bezeichnete Cardiale Resynchronisationtherapie (CRT) und die Möglichkeit zur Kontrolle und Reaktion bei bedrohlichen Herzrhythmusbeschleunigungen mit neuen diagnostischen Möglichkeiten verbindet, die Arzt und Patient entlasten (siehe Foto rechts). Die Reizimpulse, die zum Schlagen des Herzens führen sollen, werden von Minicomputern im Herzschrittmacher auf Abweichungen zu Normalwerten analysiert. Bei Unregelmäßigkeiten beziehungsweise einem daraus resultierenden unzureichenden Blutauswurf des Herzens wird der Herzmuskel über den Schrittmacher synchronisiert stimuliert. Sabine Meyer, bei Medtronic Communication-Manager Deutschland und Österreich, sieht diesen Trend erst in seinen Anfängen: "Mit insgesamt drei Millionen Betroffenen in den fünf größten europäischen Ländern Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien besitzt die Herzinsuffizienz inzwischen epidemischen Charakter." Die Ergebnisse der aktuellen SCD-HeFT-Studie (Sudden Cardiac Death in Heart Failure Trial) - eine placebo-kontrollierte, klinische Zufallsstudien/studie, die vom National Heart Lung and Blood Institute der US-amerikanischen National Institutes of Health unterstützt wurde, habe der Kombinationstechnologie aus kardialer Resynchronisation und Defibrillator entscheidende Impulse verliehen, um auch noch in drei, vier Jahren aktuell zu sein, so Meyer. Untersucht wurde in der Studie der Einsatz so genannter implantierbarer Cardioverter-Defibrillatoren (ICD) bei Patienten mit Herzinsuffizienz und schlechter Pumpfunktion des Herzens, bei denen zuvor noch keine lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen aufgetreten waren. Danach stellte sich heraus, dass die Implantation eines ICD zusätzlich zur bewährten medikamentösen Therapie das Risiko für den plötzlichen Herztod und die Gesamtmortalität um weitere 74 beziehungsweise 43 Prozent verringert.

Die InSync-III-Geräte kombinieren Resynchronisation des Herzens und Defibrillator.

Foto: Medtronic

Trotz IT hohes Ethos gefragt

Ersetzen kann freilich auch die Informationstechnologie nicht Herz, Verstand und persönliche Fürsorge des Mediziners. Wenn sich auch die Diagnose- und Therapieverfahren in den letzten 2500 Jahren grundlegend geändert haben: Als Begründer der rational-empirischen - also der wissenschaftlichen - Medizin verkörpert Hippokrates heute wie in der Antike das Leitbild des idealen Arztes, der wissenschaftliches Denken mit medizinischer Erfahrung und hohem ärztlichen und menschlichen Ethos verbindet. Doch auf seinen Berufsstand schien er nicht besonders viel zu geben: "Immer siegt der Tod, immer ist der Arzt auf der Seite der Unterdrücker. Er operiert den Untertanen das Rückgrat aus dem Leibe, denn die Mächtigen wollen es so." Und sein Zeitgenosse Platon fügte hinzu: "Das ist der größte Fehler bei der Behandlung von Krankheiten, dass es Ärzte für den Körper und Ärzte für die Seele gibt, obwohl beides doch nicht getrennt werden kann."


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