Utopia ("das Land, das nirgends ist") nennt man nach einem Roman von Thomas Morus ein Traumland, in dem der gesellschaftliche Idealzustand verwirklicht ist. Entsprechend könnte man das, was Citrix, Vmware und Co. heute den Unternehmen versprechen, als "Desktopien" bezeichnen: blühende IT-Landschaften, in denen die Anwender jederzeit sofortigen Zugriff auf ihre Desktops und Applikationen haben, während dem Administrator lästige Handarbeit erspart bleibt.
Die blühenden Desktop-Landschaften der Zukunft treten zunächst als schwer durchdringlicher
Dschungel unterschiedlicher Architekturen auf. Große Einigkeit herrscht bei den Anbietern im
Citrix- und Vmware-Umfeld lediglich darüber, dass die herkömmliche Bereitstellung von Anwendungen
auf Fat Clients (lokalen PCs) selbst mittels automatisierter Softwareverteilung auf Dauer zu
aufwändig, fehleranfällig und unsicher ist. Laut einer Forrester-Studie vom letzten Jahr müssen
IT-Abteilungen deshalb auf Techniken wie Desktop- und Applikationsvirtualisierung setzen. Dabei
sollten sämtliche Zugriffsverfahren laut den Analysten richtliniengesteuert von zentraler Stelle
aus zu verwalten sein.
So weit ist der Markt für Application Delivery (zentrale Applikationsbereitstellung) aber noch
nicht. Vielmehr liefern sich Citrix und Vmware einen Wettlauf um die funktionsreichste Plattform
für den unternehmensweiten Zugriff auf Desktops und Anwendungen. Vorbei sind die beschaulichen
Zeiten, in denen SBC (Server-based Computing) die einzige namhafte Bereitstellungsmethode war und
Citrix mit (sowie teils im Wettbewerb mit) Microsoft den Markt dominierte, weit vor kleineren
Anbietern wie Jetro, H+H, HOB oder 2X.
SBC ist in puncto Marktabdeckung nach wie vor die Nummer eins, technisch gesehen aber nur noch
ein Ansatz unter mehreren. Eine Alternative ist das Application Streaming, bei dem Anwendungen
zentral paketiert und dann – ähnlich einem Video-Download – in Echtzeit zu den Anwendern übertragen
werden. Über solche Lösungen verfügen Microsoft mit der Software aus dem Softgrid-Zukauf, Citrix
mit der gehobenen Version des Presentation Servers/Xenapp sowie Vmware per Thinstall-Akquisition.
Microsoft, Vmware wie auch Citrix bemühen sich derzeit, ein zentrales Problem dieser Architektur zu
beheben: die Kommunikation virtualisierter Applikationen untereinander. Vmware arbeitet daran im
Projekt Northstar, Citrix‘ Xenapp 5.0 soll es ebenso mitbringen. Die Redmonder wollen dies mit
Microsoft Application Virtualization 4.5 ermöglichen, ebenso flexiblere Skalierbarkeit und
Mehrsprachigkeit.
Große Wellen hat Vmware mit dem Konzept geschlagen, die ESX-Servervirtualisierung für virtuelle
Desktops zu nutzen: Für diese Desktop-Virtualisierung prägte der Hersteller den branchenweit
akzeptierten Begriff "Virtual Desktop Infrastructure" (VDI). Dazu hat Vmware die Linux-Lösung der
2007 akquirierten Propero auf Windows portiert. Citrix zog im Sommer 2007 mit dem Xensource-Zukauf
nach, auf dessen Technik das neue Xendesktop basiert. Auch Virtualisierungsspezialist Parallels
mischt bei VDI mit.
Einen Sonderfall im VDI-Segment bilden Blade-PCs, aktiv vermarktet zum Beispiel von HP: Während
sich bei VDI und Xendesktop mehrere Desktop-Instanzen Serverpower teilen, besteht hier eine
1:1-Beziehung. Der Ansatz zielt auf Power-User zum Beispiel im Finanzsektor, bei denen die Rechner
aus Sicherheits- oder Verwaltbarkeitsgründen zentral im RZ stehen müssen. Ein weiterer Sonderfall
ist Vmware ACE: Die Lösung erweitert Vmwares Workstation-Lösung um ein zentrales Management, die
richtliniengesteuerte Sandbox auf dem Client läuft dabei lokal.
Für Herbst wird Microsofts Windows Server 2008 erwartet, dessen Terminalservices (TS) nun
ausgereifter sind (siehe "Mehr-Wert-Dienste" auf Seite 64). Dies dürfte insbesondere den kleineren
Anbietern von TS-Zusätzen das Leben erschweren. Marktführer Citrix hingegen hat sich bereits seit
Jahren vom TS-Fokus wegbewegt und verfügt heute über eine umfassende
Application-Delivery-Infrastuktur, deren Vielfalt CEO Mark Templeton jüngst auf der Hausmesse
Synergy feierte (siehe "Alles zentral vorhalten" auf Seite 10).
Citrix bietet nicht nur drei Application-Delivery-Mechanismen (SBC, VDI, Streaming), sondern
diverse Hard- und Softwarekomponenten für deren End-to-End-Management: Das Citrix Delivery Center
umfasst die "Controller" Xenapp (bislang Presentation Server), Xenserver und Xendesktop sowie den
Applikationsbeschleuniger Netscaler, das Access Gateway (SSL-Gateway), die Appliance Branch
Repeater für beschleunigte Fernzugriffe von Filialen aus, die Software-Clients Desktop Receiver und
App Receiver (Clients für VDI beziehungsweise SBC inklusive Absicherung und WAN-Beschleunigung)
sowie das Citrix Workflow Studio für die Verknüpfung der Komponenten per grafischer Oberfläche
(Bild oben).
Im Mittelpunkt der Diskussion steht vor allem die Desktop-Virtualisierung. Während SBC einzelne
Applikationen veröffentlicht, dient VDI der zentralen Bereitstellung ganzer PC-Arbeitsoberflächen
und vermeidet damit sowohl den Managementaufwand und viele Sicherheitsrisiken des Fat Client
Computings als auch die Frage der Terminalserverfähigkeit verwendeter Applikationen. Damit lässt
sich die Ressourcenzentralisierung vom einfachen "Task Worker" (dem klassischen SBC-Endanwender)
auf anspruchsvollere Benutzer (die "Knowledge Workers") ausdehnen – mit Blade-PCs eben sogar bis
zum Power-User.
Nachdem Vmware Anfang 2008 die VDI-Lösung Virtual Desktop Manager 2.0 präsentiert hatte, meldete
Citrix jüngst auf der Hausmesse Synergy die Verfügbarkeit der Konkurrenzlösung Xendesktop 2.0. Das
Problem virtueller Desktops: Serverseitig sind zahlreiche Images vorzuhalten, zu managen und zu
patchen. Dieses Problem soll Xendeskop 2.0 mit der Komponente Provisioning Server umgehen: Sie
stellt ein Basis-Image ("Golden Image") bereit, individuelle Einstellungen und zusätzliche
Applikationen werden von externen Quellen hinzugeladen.
Vmware rät bei diesem Problem zur Nutzung von Datendeduplikation, zum Beispiel mittels Partner
Netapp. In Zukunft soll zudem SVI (Scalable Virtual Images) das Speicherplatzproblem durch
Kompression gleich serverseitig bekämpfen. Zudem skaliere VDI linear und profitiere damit deutlich
stärker als TS von künftigen CPU-Generationen. Besonders bei hohen Ansprüchen könne VDI gegen SBC
punkten, da sich Ressourcen individuell zuweisen und priorisieren lassen. Mit DRS (Dynamic Resource
Scheduling) sind Instanzen zudem dynamisch migrierbar, um Server gleichmäßig auszulasten – ein
großes Plus gegenüber TS. Zudem arbeitet Vmware nach der Akquisition des Streaming-Spezialisten
Thinstall ebenfalls an einer Lösung, um gehosteten Basis-Images nach Bedarf Anwendungen
hinzuzufügen. Thinstall fasst dabei alles in einer EXE zusammen und arbeitet Client-los. Für
Monitoring und Automation hat Vmware jüngst den Anbieter B-hive geschluckt.
Parallels nutzt zur Effizienzsteigerung seine Virtuozzo-Containertechnik, die auf dem
Betriebssystem des Servers aufsetzt, statt den ganzen Softwarestack zu replizieren, und spart damit
ebenfalls teuren SAN-Plattenplatz. Managementspezialist Quest ist seit der Übernahme von Provision
Networks letztes Jahr mit einem eigenen Connection Broker vertreten. Ein solcher Broker dient im
Rahmen von VDI der Vermittlung zwischen Endgeräten und virtuellen Instanzen.
Citrix konzentriert sich offenbar stark auf VDI: Xendesktop 2.0 erschien zur Synergy, während
Xenapp 5.0 auf die zweite Jahreshälfte verschoben wurde. Noch ist unklar, welche Rolle Microsoft
einnehmen wird: Derzeit stehen die Redmonder ohne eigene Lösung da. Doch Microsoft hat mit Hyper-V
eine Virtualisierungsplattform und in der System-Center-Familie passende Verwaltungs-Tools, über
den Calista-Zukauf zudem Videobeschleunigung. So fehlt nur noch ein Connection Broker. Der
Softwaregigant könnte also – wenn auch, wie schon bei TS, spät – mit einer eigenen Basislösung ins
Geschäft einsteigen. Dies wäre zwar ein weiterer Schritt weg vom fetten PC, aber eben hin zum
großen Kuchen der Zentralisierung.
Wie groß dieser Kuchen tatsächlich ist, darüber herrschen geteilte Meinungen. Die eine Fraktion
warnt vor dem Verwaltungs- und Storage-Aufwand: Die Tools seien noch nicht ausgereift, zudem bringe
man auf einem Standardserver zwar 30 bis 40 SBC-, aber nur sieben bis acht Xendesktop-Anwender
unter. Manche Branchenkenner raten deshalb, alles auf Presentation Server zu packen, was
terminalserverfähig ist, in Einzelfällen Applikationen hinzuzustreamen, und Desktop-Virtualisierung
nur für jene Knowledge-Worker und Power-User zu nutzen, die tatsächlich individuelle Desktops
benötigen.
Die Gegenfraktion argumentiert nach dem Motto: "SBC war gestern, VDI ist die Zukunft." Diese
Anbieterschar betont vor allem die Verwaltungs- und Sicherheitsvorteile von VDI gegenüber dem
Management verteilter Fat Clients. Zur VDI-Verwaltung und -Automation bietet Vmware schon
zahlreiche Tools, deutlich mehr als Citrix, und plant eine Lösung für den mobilen Einsatz sowie die
Integration von Virenscans direkt in den Hypervisor.
Doch nicht nur Vmware stößt in dieses Horn, auch die Thin-Client-(TC-)Anbieter hoffen, dass sich
ihr Einzugsgebiet vervielfacht. So haben diverse TC-Hersteller neue Geräte(-familien) speziell für
virtuelle Desktops angekündigt – obwohl dies rein technisch nicht nötig wäre: Als Client genügt ein
TC mit RDP-Client oder Citrix Desktop Receiver. Dennoch hat Wyse mit Viance eine
Xendesktop-konforme Gerätefamilie vorgestellt (siehe www.lanline.de/kn31495414). Da für VDI (wie
auch für SBC) Multimediaanwendungen problematisch sind, bringt Wyse hier seine
Beschleunigungstechnik TCX Multimedia ins Spiel. Der deutsche Lokalmatador Igel will sein gesamtes
Portfolio "per Knopfdruck" von SBC auf VDI umstellbar gestalten, hat aber auf der Synergy auch
einen integrierten 19-Zoll-Widescreen-TC als VDI-Prototyp gezeigt. Marktführer HP, noch bis Ende
des Jahres mit der Integration der Neoware-Akquisition beschäftigt, hat bislang nur angekündigt,
Xendesktop zu unterstützen. HP bietet jetzt mit dem 6720t erstmals einen eigenen mobilen TC, also
ein festplattenloses Notebook, wie es andere Anbieter (auch HP via Neoware) schon führen. Chip PC
ist ebenfalls Xendesktop-konform und meldet, seine TCs benötigten nur 3,5 W, liefert sich also mit
Sun einen Wettlauf um den "grünsten" TC (siehe www.lanline.de/kn30974221). Vmware verkündete eine
VDI-Kooperation mit Sun, dem Anbieter der Sun Ray Ultra Thin Clients.
Neues gibt es zudem bei den Verwaltungs-Tools: Visionapp hat seine Lösungen zur Visionapp
Application Delivery Management Suite 2008 konsolidiert. Enteo will bis Ende 2008 eine gesamte
Citrix-Provisionierung (Xenapp, Xenserver, Xendesktop und Provisioning Server) aus einer zentralen
Konsole heraus steuern können. Zudem wagt sich nun auch der kleine Augsburger Anbieter Baramundi
auf das Terrain der Citrix-Serververwaltung.
Das Rennen um den ortsunabhängigen Fernzugriff auf Desktops und Applikationen ist in die nächste
Runde gegangen. In Unternehmen werden SBC und VDI konkurrieren. Sogar dem Consumer-Segment könnten
virtualisierte Desktops den Weg zu (mobilen) Thin Clients und zentral gehosteten Umgebungen
weisen.