Next Generation Networks in Europa

Fast schon auf der Zielgeraden

25. Mai 2008, 22:50 Uhr | Arno Laxy/wg

Netze der nächsten Generation (Next Generation Networks, NGNs) sind die Zukunft der Kommunikationsbranche. Große TK-Netzbetreiber, IT-Unternehmen, Wholesale-Carrier und künftig wohl auch Mobilfunk-Provider stellen ihre Kommunikationsnetze auf eine durchgängig IP-basierte Infrastruktur um oder planen dies. Die Umsetzungsgeschwindigkeiten in Europa sind dabei unterschiedlich.

Von einer Revolution sprechen Marktbeobachter heute nur noch selten, wenn es um NGNs geht. Die
Euphorie der ersten Jahre, als mancher traditionsreiche Betreiber lieber heute als morgen sein
klassisches SDH-/Sonet-Transportnetz durch ein komplett konvergentes "All-IP"-Netzwerk ersetzen
wollte, ist einer realistischeren Einschätzung gewichen. Dennoch schreitet die Entwicklung voran,
wie das Beispiel von British Telecom zeigt: BT migriert die Kommunikationsinfrastruktur in Wales im
Rahmen des Projekts "Twenty-first Century Network" (21CN) mit Hochdruck auf ein Netzwerk der
nächsten Generation. Europaweit verfügt der paneuropäische Betreiber Interoute über das nach
eigenen Angaben dichteste NGN mit direkten Anbindungen zum boomenden Wirtschaftsstandort Dubai und
den Handelsmetropolen in Fernost.

In Deutschland nur langsame Bewegung hin zum NGN

Während Carrier in Ländern wie Großbritannien einen realistischen, aber dennoch entschlossenen
Weg hin zu konvergenten Netzen eingeschlagen haben, bewegen sich Unternehmen in Deutschland nur
langsam und zögerlich in Richtung der NGN-Modelle. Nach Erkenntnissen der Marktforscher von
Berlecon Research haben lediglich 38 Prozent der Unternehmen mit über 100 Mitarbeitern ein
konvergentes Sprach-/Datennetz eingeführt. So haben laut Berlecon-Analyst Philipp Bohn bisher nur
ein Viertel der Unternehmen in Deutschland ihre herkömmliche Nebenstellenanlage durch eine IP-PBX
ersetzt. Bohn weist damit nicht nur auf die noch geringe Durchdringung des deutschen Markts mit
NGNs hin, sondern auch auf die Tatsache, dass NGNs in unterschiedlichen Einsatzbereichen mit
unterschiedlichen Anforderungsprofilen und Geschwindigkeiten ihre Teilmärkte erobern. Man kann
diese in vier Geschäftsfelder aufteilen: Breitbandlösungen für Endkunden, Unternehmensservices,
Wholesale Carrier und Mobilfunk.

Die große Mehrzahl der klassischen Betreiber in West- und Mitteleuropa arbeitet daran, ihre
nationalen oder Endkundeninfrastrukturen zu durchgängigen IP-Netzen zu transformieren. Dan Bieler,
Director Consulting, European Telecommunications & Networking bei IDC, erwartet in seinem
Bericht "Next Generation Networks: Prepare for the Gradual Revolution" vom Februar 2007, dass die
OECD-Länder bis zum Ende dieses Jahrzehnts mehrheitlich die Entwicklung hin zu NGNs abgeschlossen
haben.

Breitbandlösungen für Endkunden

Durch die Entkopplung von Zugang und Service in konvergenten Breitbandnetzen haben die
Netzbetreiber die Kontrolle über die Inhalte verloren. Von ihnen unabhängig offerieren
Inhalteanbieter wie Google, Yahoo oder Web.de erfolgreich ihre Dienste. Daher – und weil der Zugang
allein aufgrund des Preiskampfes in diesem Bereich immer weniger lukrativ ist – sind DSL-Anbieter
bestrebt, Bezahldienste zusätzlich zum Zugang zu offerieren: Voice over IP (VoIP), IPTV (Fernsehen
über IP), Video on Demand (individueller Abruf von Filmen über das Carrier-Netz nach Bedarf) und
zahlreiche andere.

Damit diese Dienste konsistent und ohne Einschränkungen arbeiten können, muss der zuverlässige
Transport gewährleistet sein: Der Provider muss für ausreichende Kapazität im Netz sorgen, damit es
nicht zu Verzögerungen und Paketverlusten kommt.

Als Lösung bietet sich für Betreiber die Zugangskontrolle mit Techniken wie PBT über Ethernet
an, die Dienstekontrollpunkte im Netzwerk verteilen. Damit gewinnen sie einerseits mehr Kontrolle
über ihr Netzwerk und haben andererseits ein Verfahren, um die Datenpakete auch vorhersagbarer
durch das Netz zu schicken.

Größte Forschritte im Geschäftskundensegment

Die NGN-Einführung ist im Geschäftskundenbereich wohl am weitesten vorangeschritten. Ein
Großteil der international agierenden Unternehmen hat entweder bereits die bestehenden Frame-Relay-
und ATM-Netze durch IP/MPLS (Multi-Protocol Label Switching) ersetzt oder zumindest einen festen
Zeitplan dafür. Die Carrier zielen im Unternehmensmarkt darauf ab, nicht durch die reine
Bereitstellung der IP-Connectivity, sondern vielmehr durch Zusatzdienstleistungen Gewinne zu
erzielen. Die zusätzlich angebotenen Dienste sind klar definiert, doch die Implementierungen
variieren stark, genauso wie Flexibilität und Verfügbarkeit.

TK-Anbieter können dank der Funktionalität von NGNs Dienste viel schneller, flexibler und
günstiger entwickeln als Systemintegratoren mit traditionellen Legacy-Systemen. Eine NGN-Plattform
beschleunigt Design, Bereitstellung und Betrieb von Services wie VPN, VoIP oder Multi-Play
(zahlreiche Dienste über IP), sodass bisherige Servicebereitstellungsverfahren (Migrationen) über
alte LAN-Strukturen obsolet werden. NGNs werden im Unternehmensumfeld die Art und Weise,
IT-Services anzubieten, radikal ändern. Sie ermöglichen die Industrialisierung von IT-Diensten und
machen das IT-Projektmanagement realistisch planbar.

Wholesale Carrier oft mit veralteter Infrastruktur

Der Wholesale Carrier ist ein traditionelles Modell als Vorlieferant für das Endkundengeschäft,
das geprägt ist von europaweit niedrigen Margen, sinkenden Umsätzen und einer häufig veralteten
Infrastruktur. Die Entscheidung für das NGN oder die Umwandlung der eigenen Infrastruktur in
Richtung eines solchen Modells richtet sich stark nach der vorhandenen Infrastruktur.

Denn für das Wholesale-Carrier-Geschäft sind heute nicht nur einzelne Glasfaserverbindungen,
sondern der Zugang zu mehreren Glasfasern unumgänglich: Der parallele Aufbau neuerer Netze ist
erforderlich, um überhaupt erst den reibungslosen Übergang von alten Netzen zu neuen zu
ermöglichen.

Dabei müssen parallele Glasfaserkabel im Einsatz sein, damit immer dieselben A- und B-Punkte im
Netz vorhanden sind. Hinzu kommt, dass selbst durch den Einsatz von DWDM-Systemen (Dense Wavelength
Division Multiplexing, Wellenlängenmultiplex) auch NGNs schnell an ihre Leistungsgrenzen stoßen.
Daraus ergibt sich, dass zwei bis drei parallele Kabel notwendig sind.

Das NGN-Modell ermöglicht ausgefeilte Lösungen, die es einem Betreiber erlauben, die
Core-Infrastruktur auszulagern, sodass er wirtschaften kann, ohne paneuropäische Organisationen
aufbauen zu müssen, die sein Netz unterstützen. Neben dem traditionellen Outsourcing von Bandbreite
können Betreiber jetzt auch internationale Sprach-Interconnects (Carrier-übergreifende
Verbindungen) auslagern. Außerdem können sie den Backbone-ISP auslagern, um ein IP-Geschäft
aufzubauen, ohne sich an dem Wettbewerb beteiligen zu müssen, der dieser Tage den europäischen
ISP-Markt aufrüttelt.

Auch die Mobilfunkbetreiber müssen die Herausforderungen der Breitbandwelt annehmen. Auch ihnen
stellt sich die Frage, wie sie Umsätze im Mobilfunk sichern oder sogar steigern können, ohne dass
neue Dienstanbieter das mobile Breitband via WLAN oder Wimax als Zugang nutzen. So bietet zum
Beispiel Wimax gegen Gebühr vereinzelt schon einen Weg ins Internet, den Kunden auch zum
Telefonieren nutzen können.

Mobile NGNs mit IP-Multimedia-Subsystem

Mobilfunkunternehmen werden versuchen, dieser neuen Konkurrenz mit einem IMS (IP Multimedia
Subsystem) zu begegnen. Auf Grundlage von SIP (Session Initiation Protocol) baut das IMS eine Reihe
geografischer Kontrollen und Beschränkungen für den Nutzer auf, um bei Verbindungen zwischen
Umsätzen, Services und Kapazitäten zu unterscheiden. Laut IDC-Analyst Dan Bieler ist zu erwarten,
dass sich Mobilfunk-NGNs gegenüber klassischen leitungsvermittelten Techniken erst sehr spät, wenn
überhaupt, durchsetzen werden.

Fazit: NGNs werden sich langfristig durchsetzen

Die Einführung von Netzen der nächsten Generation erfolgt in Europa je nach Land und
Geschäftsbereich mit jeweils unterschiedlicher Geschwindigkeit. Großbritannien gehört zu den
Trendsettern, während die Netzbetreiber wie auch die Unternehmen in Deutschland eher ein
verhaltenes Tempo gewählt haben.

Langfristig, nach Einschätzung des Analystenhauses IDC schon bis zum Ende des Jahrzehnts, werden
sich NGNs in West- und Mitteleuropa aber auf jeden Fall durchsetzen, nicht zuletzt wegen der
Kostenvorteile. Weitere Gründe sind, so der Analyst Philipp Bohn von Berlecon, "die Ersetzung
abgeschriebener Legacy-Infrastrukturen durch IP-basierte NGN-Lösungen sowie Trends wie die
Globalisierung, geografische Dezentralisierung oder fragmentierte Lieferketten". Diese Faktoren
werden laut Bohn Unternehmen dazu bringen, in innovative Informationstechniken zu investieren.


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