"Die Wirtschaftskrise führt uns vor Augen, was geschieht, wenn mächtige Systeme kollabieren", so Martin Jetter, General Manager von IBM Deutschland. Deshalb seien Frühindikatoren erforderlich: "Nicht nur in der Finanzwirtschaft - auch für Klimaveränderung oder das Versorgungswesen."
CZ - IBM Global Business Services hat eine Consulting-Einheit für Business Analytics and Optimization Services aufgestellt. Herrscht in Führungsetagen ein Informationsdefizit ?
Jetter - Ein Grund für die der Wirtschaftskrise vorausgehenden Finanzkrise war, dass die Produkte der Bankenwelt nicht hinreichend transparent waren. Zweitens fehlten Frühwarnsysteme - Indikatoren, die verraten, wie zu reagieren ist. Jetzt wird plötzlich viel von Szenarien gesprochen, die eine Erfassung von Informationen, ihre strukturierte Analyse und Simulationen voraussetzen. Deshalb haben wir nun die in der IBM verteilten Kompetenzen gebündelt - von der Analyse und Beratung über Softwareentwicklung sowie Forschung und Entwicklungsfähigkeit bis hin zum High-Performance Computing. Wir haben bewusst zum Einstieg die Finanzzentren gewählt, aber die Kompetenz ist auch gefragt in Bereichen wie Verkehr, Strom- oder Wasserversorgung.
CZ - Das System Watson von IBM Research wird bei der Quizshow Jeopardy! bald komplexe Fragen beantworten. Braucht die Welt derartige synthetische Analysekraft und semantisches Verständnis?
Jetter - Eindeutig. Seit Jahren läuft in der Finanzwirtschaft ein mächtiges System, das die Währungsparitäten ausgeglichen hält - und noch nie ist hier etwas passiert. Doch die Wirtschaftskrise führt uns vor Augen, was geschieht, wenn mächtige Systeme kollabieren. Wir brauchen also Simulationssysteme für die Berechnung von Modellen, um Indikatoren zu erhalten. Und das gilt für alle Grand Challenges - angefangen bei der Klimaveränderung bis hin zum Versorgungswesen.
CZ - Die Amway GmbH hat eben den Outsourcing-Vertrag mit IBM verlängert. Wie bewerten Sie denn generell den Outsourcing-Markt?
Jetter - Er hat an Dynamik gewonnen - primär getrieben durch die Wirtschaftssituation. Unternehmen denken nämlich verstärkt über ihre Kernkompetenz nach und welche Kompetenzen sie besser zukaufen, um von der Innovationsskalierbarkeit zu partizipieren - wir sprechen vom Economy of Scale. Hinzu kommt ein Zweites: Im letzten Jahrzehnt sind viele Erneuerungen aus der IT-Industrie auf Kundenseite nicht umgesetzt worden. So sind Serverlandschaften dezentralisiert gewachsen - aber sind sie sicher und klimatechnisch effizient? Inzwischen sind bei vielen Unternehmen sogar bauliche Maßnahmen erforderlich. Diese Faktoren, verbunden auch mit inzwischen erarbeiteten Techniken, haben die Nachfrage nach Outsourcing beschleunigt.
CZ - Eben hat IBM wieder eine große Fuhre mit Services und Produkten für dynamische IT-Infrastrukturen auf den Markt geschoben. Gibt es eine definierbare Gruppe von Vorreitern bei der IT-Transformation?
Jetter - Wir haben tatsächlich sehr viele Anfragen zur Dynamisierung der Infrastruktur aus dem Versicherungs- und Bankenbereich, obgleich ich da nicht von Vorreitern sprechen will - es geht ja um eine langfristig und mehrschichtig angelegte Evolution. Das Ziel sind Cloud-Zentren und - in der Vertikalen gesehen - externe Entwicklungskapazitäten.
CZ - Können Sie selbst denn das Wort Cloud noch hören?
Jetter - Die IT-Industrie redet über die Cloud viel und etwas wolkig. Dennoch wollen wir da hin - und der Hype hat ja auch eine realistische Dimension. Mit einer Cloud werden serviceorientiert Applikationen und damit Dienste zu Verfügung gestellt. Dafür muss ich meine Infrastruktur dynamisieren. Gegenwärtig läuft ja auch die Virtualisierung von Ressourcen wie Speicher und Server, Netzwerk und Anwendungen auf Hochtouren. Im nächsten Schritt kommen für die Verwaltung dieser komplexen Systemlandschaft Management-Werkzeuge wie Tivoli ins Spiel - niemand würde alternativ massiv Administratoren einstellen. Und in der nächst höheren Schicht reden wir über Middleware wie Websphere, die Anwendungen als Software as a Service über eine Cloud zur Verfügung stellt.
CZ - Sie haben eben vertikale Dienstleistungen der IBM angesprochen. Was ist konkret gemeint?
Jetter - Aufgaben wie Testen und Softwareentwicklung, für die IBM Kapazitäten vorhält. Passen einem Anwender beispielsweise die marktgängigen Customer-Care-Billing-Systeme nicht, programmieren wir ihm eine Lösung. Viele Unternehmen haben auch große, gewachsene und durchaus robuste Legacy-Systeme, die sie wegen mangelnder Flexibilität und aus Kostengründen ersetzen müssen. Um ein neues System in Betrieb zu nehmen, wird heute niemand mehr Zusatzkapazitäten für das Testen implementieren - wobei der Bedarf des Testens wegen der Abhängigkeit von den Systemen höher ist denn je.
CZ - Warum das?
Jetter - Keine Bank könnte es sich leisten, dass regional Geldausgabeautomaten wegen eines System-Upgrades im Backend ausfallen - der lokale Sender schickt ein Kamerateam, der Vorfall wird über das Internet in alle Welt geblasen, was in der imageschädigenden Conclusio enden könnte, dass die Bank kein Geld mehr hat.
CZ - Über all dem thronen die Anwendungen. Kein Aktionsfeld für IBM?
Jetter - Unser Beritt ist zwar der ganze IT-Komplex, aber wir entwickeln auch weiterhin keine Anwendungen, um sie gegen den Wettbewerb in den Markt zu bringen. ERP-Software soll SAP weiterhin selbst entwickeln - unsere Kompetenz auf dieser Ebene ist die professionelle Bereitstellung von SAP as a Service. Und so liefern wir auch standardmäßig Lotus as a Service - unser Open Company Center dient dazu, dieses Modell für Kunden nachvollziehbar zu machen.
CZ - Bei der kooperativen Einrichtung mit Redhat und VMware geht es um den Microsoft-freien Desktop als Service. Was bringt das?
Jetter - Im Enterprise 2.0 verändern sich mobile und stationäre Arbeitsplätze. In Gesellschaft und Wirtschaft vollzieht sich durch die Web-2.0-Technologien wie Blogs, Wikis oder Mashups ein Wandel, wie Menschen mit Kollegen und Informationen umgehen - mit dem Social Computing etabliert sich also eine neue Form der Zusammenarbeit. Die dafür bei den Informationsarbeitern erforderliche Flexibilität erreicht ein Unternehmen mit dem Ausbrechen aus einer proprietären Welt in offene Systemlandschaften
Rochus Rademacher/CZ
http://llschnuerer.cmpdm.de//sites/cz/kn31939792">IBM-Deutschland-Chef Jetter über das Open Company Center und seinen eigenen Desktop