Industrie neu denken: Wie Digitalisierung Produktion, Plattformen und Netze transformiert
Wie wird Digitalisierung zum echten Produktivfaktor? Welche Rolle spielen digitale Zwillinge, KI, resiliente Prozesse und sichere Industrienetze in der Fabrik von morgen? Vier Sessions des Thementags von connect professional machten deutlich: Die industrielle Transformation gelingt nur dort, wo Produktion, Daten und Kommunikation in gemeinsamen Architekturen gedacht werden – vernetzt, souverän und skalierbar.
Die industrielle Digitalisierung gewinnt weiter an Dynamik – und mit ihr die Anforderungen an Datenintegration, resiliente Prozesse, KI-gestützte Fertigung und eine sichere Vernetzung. Beim Webinar-Thementag „Digitalisierung in der Industrie“ von connect professional Anfang November boten Expertinnen und Experten von Siemens, Sage, Mitel sowie Alcatel-Lucent Enterprise einen praxisnahen Blick darauf, wie sich Produktion, Logistik und Unternehmenssteuerung heute neu aufstellen müssen.
Digitale Fabriken brauchen Mut zur ganzheitlichen Transformation
Gleich zum Auftakt setzte Siemens ein starkes Zeichen: Die Produktion im Gerätewerk Erlangen gilt als eines der modernsten Industrieumfelder Europas – und als real existierender Prototyp für das „Digital Enterprise“.
Stephan Schlauß, Head of Manufacturing, zeigte eindrucksvoll, wie digitale Zwillinge, KI-basierte Prozessoptimierung, Industrial Metaverse und IT-OT-Konvergenz zusammenspielen. „Wir bauen in China inzwischen ganze Fabriken zuerst digital, bevor der erste Beton gegossen wird“, betonte er. Der virtuelle Zwilling diene dabei nicht nur als Simulationsraum, sondern als strategisches Steuerungsinstrument über den gesamten Lebenszyklus.
Das globale Motion-Control-Fertigungsnetzwerk von Siemens umfasst zwölf Werke – vom digitalen „Native Factory“-Projekt in China bis zu hochautomatisierten Standorten in Europa. Die Bandbreite reicht von Make-to-Stock über Make-to-Order bis zu Engineering-Intensivfertigung. Gerade diese Vielfalt verdeutlicht für Schlauß: „Heterogene Produktionslandschaften zeigen, wie wichtig Standards, Datenkonsistenz und interoperable Plattformen sind.“
Nachhaltigkeit und Effizienz seien dabei kein Gegensatz, sondern neue Wachstumspfade: Energieoptimierung, KI-basierte Fehlerprävention und Lean-Methoden greifen in der „Green Lean Digital“-Strategie unmittelbar ineinander – technologisch wie kulturell.
ERP wird zum modularen Nervensystem der Industrie
Wie digitale Wertschöpfung künftig orchestriert werden kann, zeigte anschließend Sage. Dominik Schätzel, Produktmanager ERP, machte deutlich: „Unternehmen arbeiten längst in modularen Ökosystemen – Webshop, Logistik, Einkauf, CRM. Monolithische ERP-Systeme können diese Realität nicht mehr abbilden.“
Composable ERP wird so zum verbindenden Element, das Prozesse, Daten und KI-Anwendungen flexibel verknüpft. Microservices, API-first-Architekturen und offene Schnittstellen ermöglichen Module, die sich dynamisch austauschen oder skalieren lassen. Für den Mittelstand, so Schätzel, reduziere dies „Transformationsrisiken und steigere die Anpassungsfähigkeit“, etwa wenn neue Services oder KI-Funktionen integriert werden.
Er verwies auch auf den Gartner-Hype-Cycle, in dem Generative AI, Sustainability und Composable ERP die zentralen Zukunftstreiber des ERP-Markts darstellen. Moderne Plattformen erlauben kleine, schnelle MVPs statt großer Big-Bang-Migrationen – ein entscheidender Vorteil für Unternehmen mit begrenzten Ressourcen. „Wichtig ist, dass Unternehmen die Kontrolle über ihre Daten behalten – egal ob On-Prem, Hybrid oder Cloud“, betonte Schätzel. Datensouveränität wird damit Teil der ERP-Strategie, nicht nur der Infrastruktur.
Ohne Resilienz keine Wettbewerbsfähigkeit
Cyberangriffe, Lieferkettenstörungen und Naturereignisse – das Risikoportfolio der Industrie wächst. Für Nico Thurau, Security Consultant bei Mitel, ist deshalb klar: „Die Frage ist nicht, ob etwas passiert – sondern wann.“ Warum dieser Satz keine Übertreibung ist, zeigte Thurau anhand realer Fälle: von Hackerangriffen auf Berliner Flughäfen über die Evakuierung einer Leverkusener Klinik nach Unwettern bis hin zu Stromausfällen, die europaweite Systeme beeinträchtigen. Beispiele, die verdeutlichen, wie schnell kritische Prozesse zum Erliegen kommen können – und wie teuer fehlende Vorbereitung wird.
BCM sei deshalb kein abstraktes Regelwerk, sondern ein operativer Leitfaden für den Ernstfall. Risikomatrizen, definierte Risk Owner, klare Priorisierungen und technische wie organisatorische Maßnahmen (TOM) bilden das Fundament. BCM und Risikomanagement, so Thurau, „gehören untrennbar zusammen – das eine ist präventiv, das andere reaktiv.“ Auch KI werde künftig stärker zur Risikoanalyse beitragen: durch Mustererkennung, Simulationen und kontinuierliche Neubewertung veränderlicher Bedrohungslagen. Damit wird Resilienz vom Compliance-Thema zum strategischen Faktor der Wertschöpfung.
Industrielle Netze entscheiden über Tempo und Sicherheit des Wandels
Wie essenziell Kommunikationsinfrastrukturen für Industrie 4.0 sind, zeigte Alcatel-Lucent Enterprise. „Ohne sichere, stabile Netze bleibt Digitalisierung ein PowerPoint-Vortrag“, fasste Benjamin Eggerstedt, Senior Director Strategic Network Business Germany, zugespitzt zusammen. Mit dem Aufkommen von Edge-KI, AGVs, flexibler Robotik und digitalisierten Produktionsschritten steigen Anforderungen an Latenz, deterministische Steuerung und Ausfallsicherheit rapide. Viele Werke stehen daher vor der strategischen Frage: Wi-Fi 7 oder Private 5G? Die Antwort ist selten binär. Während Wi-Fi 7 große Flexibilität und Bandbreite bietet, liefert Private 5G die benötigte Verlässlichkeit und Security-Domain-Trennung für kritische Produktionsprozesse.
Benjamin Eggerstedt, Senior Director Strategic Network Business Germany bei Alcatel-Lucent Enterprise: „Ohne sichere, stabile Netze bleibt Digitalisierung ein PowerPoint-Vortrag – aber keine gelebte Realität in der Produktion.“
Zudem gewinnt Datensouveränität in Ausschreibungen an Gewicht: Offene Plattformen, Zero-Trust-Netzwerke, fabric-basierte Architekturen und IT-OT-Interoperabilität sind Faktoren, die immer häufiger über Investitionsentscheidungen bestimmen. Eggerstedt zeigte, wie hybride Netzmodelle und Edge-Konzepte den Übergang zu Cloud-connected Factories ermöglichen – ohne Produktionsrisiken zu erhöhen. Sicherheit wird dabei zur Designfrage: Netzwerksegmentierung, Mikrosegmentierung und Zero-Trust-Prinzipien entscheiden darüber, ob Angriffe eindämmbar bleiben.
Datenräume verschoben – aber nicht vertagt
Der Vortrag von Fraunhofer IESE zum Projekt „AAS Dataspace for Everybody“ musste kurzfristig ausfallen. Das Thema bleibt dennoch ein Grundpfeiler der industriellen Digitalisierung: Standardisierte, souveräne Datenräume sind zentral, um digitale Zwillinge, KI und Lieferketteninformationen sicher und interoperabel über Unternehmensgrenzen hinweg zu teilen. connect professional wird das Thema gemeinsam mit dem Fraunhofer IESE zeitnah in einem gesonderten redaktionellen Beitrag aufbereiten.
Fazit: Digitalisierung wird zum strategischen Zusammenspiel
Der Thementag machte klar: Die Industrie steht mitten in einem tiefgreifenden Umbau. Entscheidend ist dabei nicht die einzelne Technologie, sondern das Zusammenspiel von vier Erfolgsfaktoren:
- digitale Fabriken,
- modulare Plattformen,
- resiliente Strukturen,
- sichere Netze.
Nur wo diese Bausteine in einer gemeinsamen Architektur gedacht werden, entsteht echte Wettbewerbsfähigkeit – und die Grundlage für Industrie 2030.