Die amerikanische Online-Reiseagentur Orbitz war einst als Schnellschuss gegen Travelocity und Expedia gedacht. Inzwischen wurde die Firma ein paar Mal umgekrempelt und entsprechend chaotisch entwickelte sich die IT-Infrastruktur. Seit zweieinhalb Jahren entwickelt Orbitz an einer neuen servicorientierten Plattform, die aber frühestens im nächsten Jahr fertig sein wird. Vor drei Jahren erkannte der damalige Orbitz-CIO Bahman Koohestani, dass die vorhandene Infrastruktur am Ende ist und startete ein komplettes Redesign der IT-Plattform. Doch damit entwickelte er praktisch auch ein neues Unternehmen, denn Orbitz besteht nur aus einem Webauftritt und handelt im Gegensatz zu vielen anderen E-Tailern nicht einmal mit physischen Waren, sondern nur mit E-Tickets - was nichts anderes ist als einfache Datensätze.
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CZ Zone Serviceorientierte Architektur
Unter dem Code-Namen Austin entwickelt Orbitz seit 2005 das neue Individualsystem, das aus einem Satz an serviceorientierten Komponenten besteht, die zumeist in Java erstellt werden. Die Entscheidung zugunsten von Java geht zurück auf die ursprüngliche Orbitz-Plattform, die ebenfalls in Java geschrieben wurde. Orbitz behauptet, der weltweit größte Anwender von Suns serviceorientierter Java-Entwicklungsplattform Jini zu sein.
Während die meisten heutigen Reservierungssysteme immer noch auf IBM-Mainframes mit CICS-Transaktionsverarbeitung basieren, nutzt Orbitz ausschließlich Standardserver mit Redhat Enterprise Linux. Auch sonst kommt viel Opensource zum Einsatz. Jboss bei der Middleware sowie Apache und Tomcat als Web-Application-Server. An proprietärer Software werden nur Oracles Datenbank sowie einige von deren Anwendungs-Lösungen genutzt. Das besondere an der Austin-Plattform ist, dass sie verschiedene Webseiten unterstützt, und zwar sowohl externe wie auch interne. Hierzu bedient sie sich einer Reihe standardisierter User-Interfaces, die sowohl dynamische Updates erlauben als auch eine Reihe von verschiedenen Geräten unterstützen. "Die Idee ist, dass wir beliebige Daten-Feeds von unseren eigenen Quellen oder von Drittanbietern als Plug-in implementieren können", sagt Jack Staehler, Technikchef bei Orbitz. Hierzu setzt man auf das modulare Spring Web-Flow-Framework.
Außerdem ist Austin mehrsprachig, unterstützt beliebig viele Währungen und erkennt inzwischen auch an, dass es mehrere Länder auf der Welt gibt. "In der alten Plattform war ein ?Inlandsflug? immer nur inner-amerikanisch - doch jetzt erkennt das System, dass ein Flug von Hamburg nach München ebenfalls ein Inlandsflug ist", erläutert Staehler.
Eine weitere Designvorgabe war die, dass das neue System sukzessive das alte ersetzt. "Wir können uns keinen Tag leisten, in dem wir offline sind - und wir können uns erst Recht keinen Tag leisten, der praktisch eine Live-Version eines Beta-Tests für das Gesamtsystem darstellt", sagt Chefarchitekt Nik Krimm.
In Spitzenzeiten haben bis zu 280 Entwickler an der neuen Plattform gearbeitet. Im jüngsten Geschäftsquartal weist Orbitz Entwicklungs-Kosten von 47 Millionen Dollar aus. Das Projekt verschlingt immense Ressourcen", bestätigt COO Mike Nelson. So würden noch immer rund zwei Drittel der 300 Fulltime-IT-Mitarbeiter in irgendeiner Form an und für Austin arbeiten.
Seit einem Jahr werden verschiedene Bereiche bereits auf das neue System umgestellt. Als Erstes wurde die Ebookers-Plattform in England ausgetauscht. Doch wann das Projekt endlich abgeschlossen sein wird, darüber schweigen sich die Topmanager weiterhin aus. "Mit Sicherheit nicht in diesem Jahr. In der Softwareentwicklung lassen sich viele Prozesse nur sequenziell erledigen", meint Nelson und verweist dabei auf Fred Brooks? Buch "The Mythical Man-Month". "Mehr Entwickler machen ein Software-Projekt nicht schneller, sondern nur teurer", zitiert er den Autor.
Der risikoreichen Entscheidung für einen kompletten Neuanfang waren turbulente Unternehmenszeiten vorausgegangen. Die in Chicago angesiedelte Online-Agentur wurde zur Zeit der heißen Dotcom-Phase von den US-Fluggesellschaften American, Delta, Continental, Northwest und United gegründet.
Das Geschäft lief aber nicht so gut an, wie ursprünglich erhofft. Einer der Gründe dafür war, dass die Gründer-Airlines nicht ihre besten Preis-Angebote bei Orbitz einstellten, sondern jeder für sich versuchte, mithilfe von billigeren Angeboten den Traffic auf die eigene Seite zu lenken.
Ein weiteres Manko war, dass die anderen Onlineagenturen inzwischen ihr Angebot auf Mietwagen und Hotels erweitert hatten - beides Angebote, die nicht zum Inventory der Airlines gehörten. Die Aufnahme dieser Services in die Webplattform erschien unmöglich, da die einzelnen Airlines selbst Vereinbarungen mit Hotelketten hatten oder sogar daran beteiligt waren. Jede Airline wollte, dass Orbitz nur ihre eigenen Hotels anbietet.
Eine Weiterführung der Webseite als verlängerter Vertriebsarm der Airlines war nicht mehr möglich und so wurde Orbitz im Dezember 2003 an die Börse gebracht. Als Folge musste die gesamte IT-Struktur an die neuen Regeln und Vorschriften einer Aktiengesellschaft angepasst werden. Doch das Geschäft lief weiter schlecht und neun Monate später wurde Orbitz von der großen US-Immobiliengesellschaft Cendant aufgekauft - und wieder privatisiert.
Cendant plante eine große Webplattform rund ums Reisen unter dem Namen Travelport. Hierzu gehörten bereits die Seiten Cheaptickets, Hotelclub, Ratestogo sowie die europäische Seite Ebookers. Doch die Kosten und der Zeitbedarf einer Integration überstiegen die Pläne von Cendant. Und so wurde Travelport drei Jahre später für 4,3 Milliarden Dollar an den Private-Equity-Giganten Blackstone verkauft. Diese Investmentfirma macht mit den Unternehmen die es aufkauft einen Reverse-Prozess, das heißt, Aktiengesellschaften werden privatisiert und nach einer Umstrukturierung wieder an die Börse gebracht; wogegen Privatunternehmen herausgeputzt werden und für einen Aufpreis wieder an die Börse gehen.
Für Travelport bedeutet das, dass man die Integration wieder auseinander brechen musste, denn als Erstes wurde Orbitz gemeinsam mit den Consumer-Ticket-Seiten als Orbitz-Worldwide wieder an die Börse gebracht. Das ist für jeden CFO ein Albtraum. "Mit dem Jahresabschluss von Orbitz kann man locker eine Dissertation erstellen", sagt Marianne Wolk, Finanz-Analystin bei der Susquehanna Financial Group.
Weitaus komplexer noch als die Bilanzzahlen waren jedoch die IT-Belange dieser Achterbahnfahrt. So musste Orbitz für den vergangenen IPO sein gesamtes Backend-System, wie Controlling, und Personalmanagement, von Travelport abkoppeln, beziehungsweise es komplett neu erstellen.
Doch auch das war noch harmlos im Vergleich zum Kerngeschäft: Dem Verkauf von Flugtickets.So gab es interne System-Verbindungen zu den Reservierungssystemen der Gründungs-Airlines, sowie den vielen anderen Partnern, die sich mit der Zeit hinzugesellt hatten. Hinzu kam der Zugang zu den vier großen weltweiten Reservierungssystemen Galileo, Worldspan, Sabre und Amadeus. Während Galileo und Worldspan ebenfalls Tochtergesellschaften von Travelport sind, handelt es sich bei den anderen um harte Konkurrenten.
Inzwischen sind auch die Orbitz-Angebote um Mietwagen, Hotels und Pauschalreisen erweitert. Doch in diesem Business gibt es keine Synergien, so lange nicht die darunter liegende IT-Infrastruktur entsprechend integriert ist, das wiederum war mit den vielen historisch unterschiedlich gewachsenen Silos nicht möglich.
Orbitz ist ein typisches Beispiel für die Probleme, die sich daraus ergeben, wenn klassisches Unternehmens-Management auf moderne Unternehmens-Inhalte prallt. Normalerweise ist vor allem das operative Management betroffen, wenn es um Akquisitionen, neue Produktfamilien, optimierte Supply-Chain oder weit reichende Umorganisationen geht. Das IT-Management hat in solchen Fällen meist nur den neuen Strukturen und Vorgaben in einem zeitlichen Abstand und in einer mehr aggregierten Form zu folgen. Und sollte die Abbildung von verschiedenen neuen Details nur mit erheblichen Mehraufwendungen möglich sein, so reicht auch eine mehr oder minder gute Approximation der neuen Geschäftsprozesse.
Doch bei solchen Cyber-Unternehmen, wie Orbitz, ist das alles anders. Diese Firmen bestehen nur aus dem IT-Bereich, und hier bedeutet das Wort "Umorganisation" praktisch nichts Anderes als eine komplett neue IT-Plattform.
Harald Weiss/CZ/pk