Nachdem Unternehmen wie Cisco und HP seit einiger Zeit mit dem Thema Telepresence sehr präsent sind, fühlen sich die klassischen Video-Conferencing-Platzhirsche wie Tandberg und Polycom herausgefordert. Mit nur wenigen Tagen Abstand präsentierten die beiden auf visuelle Kommunikation fokussierten Player nun ihre neuen Strategien und Produktreihen. Beide wollen die "Newcomer" aus der Netzwerk- beziehungsweise IT-Szene mit der Einhaltung etablierter Videostandards ausstechen. Hinzu kommt noch eine Reihe wichtiger Details für die Tele-Collaboration, bei denen sich die Videospezialisten gegenseitig zu überbieten suchen.
Es scheint symptomatisch, dass der Begriff "Telepresence" nicht von den großen Playern der Szene, sondern ursprünglich von Cisco geprägt wurde. Nachdem sich die neue Highend-Gattung von Videokommunikationssystemen mit echtem "Gegenwarts-Feeling" unter der neuen Flagge jedoch weitaus besser anzulassen scheint als unter der schon stark beanspruchten Bezeichnung "Video-Conferencing", und sich zudem auch die Marktforscher schnell mit dem neuen Begriff angefreundet haben, springen nun auch die "alten Hasen" der Branche auf diesen Zug. Es wäre wohl doch zu seltsam, Top-Player in einem Wachstumsmarkt zu sein, dessen Bezeichnung im eigenen Vokabular nicht vorkommt. In der von Gartner veröffentlichten Studie "Market Scope for Video Telepresence Solutions 2008" beispielsweise prognostizieren die Analysten dem Telepresence-Markt großes Wachstum. So schätzen sie die Erlöse bis 2010 auf weltweit etwa 600 Millionen Dollar jährlich. Rechnet man hierzu noch Serviceleistungen, könnten sich die Umsätze nach der Überzeugung von Gartner im gleichen Zeitraum durchaus auf 1,5 Milliarden Dollar jährlich summieren.
Während Gartner hier im Sinne von Cisco mit "Telepresence" die großen Raumsysteme meint, verwenden Tandberg und einige andere Marktforscher den Begriff auch für höherwertige Desktop-Video-Conferencing-Systeme - entsprechend verwirrt bis verunsichert sind denn auch die potenziellen Kunden. Immerhin ist es Tandberg so gelungen, das edlere Telepresence-Image auf den Desktop-Markt zu übertragen, das Segment, in dem Tandberg bis dato ihre größten Erfolge verbuchen kann (knapp 50 Prozent Marktanteil nach Umsatz - Quelle: Frost & Sullivan, "Videoconferencing Endpoint Market Shares EMEA 2007"). Das Unternehmen kam 2007 auf einen Umsatz von 630,5 Millionen Dollar und wuchs damit mehr als 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ein Großteil davon geht auf das Konto eben der Desktop-Systeme. "Der Trend geht eindeutig in Richtung persönlicher Videokonferenzsysteme, mit denen Angestellte vom eigenen Schreibtisch aus Videoanrufe starten können", so Thomas Nicolaus, Geschäftsführer von Tandberg Zentraleuropa. "Immer mehr unserer Kunden integrieren Videokonferenztechnik in ihre alltägliche Kommunikation, um umweltfreundlich zu handeln und die Produktivität zu steigern".
So zielt denn auch eine der Neuankündigungen von Tandberg auf den Desktop: In Form des Video-VoIP-Telefons "E20" mit 5-Megapixel-Videokamera, Ultrabreitband-20-kHz-Freisprechanlage, IP-Telefonie-Features wie Übergabe, Message-Waiting-Anzeige und Rufweiterleitung sowie einer intuitiven Menüführung will Tandberg das Videotelefon neu beleben und am liebsten alle Schreibtischtelefone in den Unternehmen erobern. Zweite Neuvorstellung ist das "Tandberg T1", ein "Instant"-Telepresence-System für Videokonferenzen in Full-HD-Qualität. Die Einzel-Display-Lösung adressiert Ad-hoc-Telepresence-Meetings in der Führungsetage oder in kleinen Konferenzräumen. Mit "Experia" bietet das Unternehmen jedoch auch ein neues Highend-System, bei dem die Gesprächspartner virtuell am gleichen Tisch sitzen.
Wie beim Mitbewerber Polycom, der in diesem Segment gleich mehrere neue Lösungen beziehungsweise neue Versionen vorhandener Lösungen angekündigt hat, arbeiten die verwendeten Video-Codecs gemäß den bei Video-Conferencing üblichen Standardprotokollen. Anders als bei Cisco und HP, die jeweils auf eigene Codecs setzen, soll so nicht nur eine herstellerübergreifende Kommunikation möglich sein - auch die Endgeräte der Gegenstellen müssen nicht notwendig alle identisch sein. Polycom etwa zeigte im Rahmen ihrer "Realpresence-Experience-"(RPX-) und "Telepresence-Experience-"(TPX-)Präsentation, wie sich Desktop-Conferencing-Anlagen und sogar einfache Webcams bei virtuellen Meetings mit Highend-Raumlösungen einbeziehen lassen.
Knackpunkt ist die Steuerzentrale, in der neben den Codecs die verschiedenen Anschlüsse inklusive Netzwerkverbindungen untergebracht sind. Während es sich hier etwa bei Cisco eher um eine geschlossene "Black Box" handelt, will Polycom daraus einen flexiblen "IP Collaboration Server" machen, der künftig auch die TK-Anlage samt Unified Communications abbildet. Flexibilität und Schutz der Investitionen in frühere Conferencing-Lösungen sind dabei die wichtigsten Aspekte. Eine verbesserte "Lost Packages Discovery Technology" soll dafür sorgen, dass auch leichte Schwankungen der verfügbaren Bandbreite das Präsenzerlebnis nicht trüben.
Um nicht die gesamte Telepresence-Sitzung am jeweils "schwächsten Glied" auszurichten, gehen Tandberg und Polycom verschiedene Wege: Während Tandberg die Kommunikation mit Gegenstellen, die nicht die High-Definition-Qualität einer Experia aufweisen, auf einen gesonderten Bildschirm lenkt, bereitet Polycom das Signal bestmöglich auf und integriert es in die Screens, die das Gegenüber des Tisches repräsentieren. Ähnliches beim Content - etwa aus einem gemeinsam zu besprechenden Spreadsheet: Auch diesen leitet Tandberg auf den Zusatzmonitor unterhalb der Screen-Wand, während Polycom ihn auf kleine Monitore direkt in den Tischen bringt. Die Haupt-Screen-Wand bilden bei Tandberg - wie bei allen weiteren Playern - Plasmamonitore, während Polycom als einziger das Rückprojektionsverfahren einsetzt. Das Bild ist hier nicht ganz so hell und brillant, soll aber auch bei längeren Sitzungen die Augen nicht ermüden. Bei der Vermarktung der großen Telepresence-Systeme hat sich Tandberg HP mit an Bord geholt (dafür unterstützt Tandberg die HP-eigenen Codecs), Polycom wiederum pflegt dazu ihre traditionell enge Partnerschaft mit Nortel weiter.