Mammutprojekt Gesundheitskarte. Ein E-Government-Projekt der anspruchsvollsten Sorte ist die Einführung einer elektronisch lesbaren Gesundheitskarte für alle Bundesbürger. Offenheit und Transparenz spielen eine überragende Rolle, um die Akzeptanz der Karte sicherzustellen.
Im Jahr 2006 wird für das deutsche Gesundheitswesen eine neue technische Ära beginnen: Ab dann soll jeder - vom Kleinkind bis zum Greis - eine elektronisch les- und beschreibbare Gesundheitskarte besitzen. Damit können Ärzte, Pharmazeuten, Kliniken und andere Akteure im Gesundheitswesen ihre Patienten eindeutig identifizieren. Der schwunghafte Handel mit Krankenkassenkarten oder gefälschten Rezepten und anderweitige Betrügereien, von denen in letzter Zeit öfter die Rede war, werden so erschwert.
Das Projekt Bit4health hat gigantische Ausmaße: Rund 80 Millionen Bürger müssen eine Karte erhalten, und zwar annähernd gleichzeitig. Auch Privatversicherte werden in das System einbezogen. Alle bisher von den Akteuren des Gesundheitswesens verwendeten Softwareprodukte müssen so angepasst werden, dass sie mit den Karten kooperieren können. Alle Ärzte, Kliniken und Apotheken brauchen Kartenleser, die das Personal auch handhaben muss. Eine große Herausforderung also.
Viele Probleme haben mit dem schieren Umfang des Vorhabens zu tun. So ist geplant, auf der Karte ein Foto unterzubringen, damit nur der rechtmäßige Besitzer sie benutzen kann. Aber wie kommt man mit zumutbarem Organisationsaufwand an die Fotos von 80 Millionen Menschen, darunter Kleinkinder, Pflege- und Altenheimbewohner, Obdachlose? Wie ist es überhaupt möglich, rechtzeitig 80 Millionen Karten zu fertigen? "Das funktioniert nur, wenn alle deutschen Kartenhersteller gleichzeitig produzieren und sich ranhalten", meint Dirk Albers, Projektleiter Gesundheitskarte bei IBM.
Dennoch sieht es bisher so aus, als könnte dieses Projekt - anders als die Kapitalblamage Toll Collect - erfolgreich werden. Die ersten der angepeilten Meilensteine wurden jedenfalls zum geplanten Zeitpunkt erreicht. Ein gutes Zeichen, auch wenn die eigentlich problematischen Schritte erst noch bevorstehen.
Bis 2006 soll in Deutschland die Gesundheitskarte eingeführt werden. Tests beginnen schon im laufenden Jahr.
Aus einer europaweiten Ausschreibung des Bundesministeriums für Gesundheit ging IBM als Generalunternehmer und Projektleitung hervor. Weitere Partner kamen hinzu (siehe Kasten Seite 30). Das Projektvolumen für die Architekturphase sowie die Begleitung des Implementierungsprozesses beläuft sich auf rund fünf Millionen Euro.
Ende 2003 stand als erster Schritt eine detaillierte Anforderungsanalyse. Derzeit wird die Rahmenarchitektur definiert. Sie soll spätestens im dritten Quartal des laufenden Jahres fertig sein. Parallel dazu wählt das Gesundheitsministerium Testregionen aus, um das System zu erproben, und zwar möglichst in allen Bundesländern. Derzeit läuft das Auswahlverfahren.
Wichtig ist zu wissen, dass die Projektpartner rund um IBM lediglich für die Entwicklung einer tragfähigen Rahmen- und Kartenarchitektur zuständig sind - die Umsetzung, also zum Beispiel der Einbau entsprechender Module in die Software der Akteure, die Veränderung der Prozesse bei Ärzten und Krankenkassen etc. übernehmen diese Akteure dann in eigener Regie - unter Beobachtung insbesondere des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation, das auch die Akzeptanz des Mammutprojekts fördern soll. Hier liegt wahrscheinlich einer der wesentlichen Stolpersteine, denn auch das kleinste Softwarehaus und die umsatzschwächste Apotheke müssen ihre Lösungen und Abläufe anpassen, eventuell in neue Hard- und Software investieren.
Der Plan sieht vor, die Testphase bis Mitte 2005 abzuschließen, dann folgt bis zum Ende des Jahres eine Konsolidierungsphase, während der die Ergebnisse der Versuche in das System einfließen. Gegen Ende dieser Test- und Konsolidierungsphase beginnt bereits die Verteilung der Karten. Im Lauf des Jahre 2006 geht, sofern alles funktioniert wie geplant, die Gesamtlösung dann in Betrieb.
Dr. Klaus Juffernbruch, Leiter Bereich Healthcare EMEA Central Region bei IBM BCS: "Das Projekt Gesundheitskarte ist eine große Chance, sich im Health-Markt zu profilieren."
Foto: IBM
Zahlreiche wichtige Anwendungen sollen mit Hilfe der Karte realisiert werden. In einer ersten Stufe ist nur das elektronische Rezept geplant. Es genießt höchste Priorität, da man hofft, damit den teuren und verbreiteten Arzneimittelbetrug einzudämmen. Beim eRezept speichert der Arzt seine Verordnung auf der Karte oder mit Hilfe der Karte in einem zentralen Datenspeicher im Netz, statt ein Papierrezept auszustellen. Der Patient begibt sich zur Apotheke, wo die nötigen Daten ausgelesen werden, und erhält sein Medikament. Auch Verordnungen wie Massage oder Fango sollen über die Karte abgewickelt werden.
Darüber hinaus sind weitere Anwendungen möglich. Beispiele sind die Speicherung sämtlicher Arzneimitteldaten des Patienten oder aller Daten, die im Notfall gebraucht werden. Auch Daten zur Krankenkasse, zu geleisteten Zuzahlungen etc. könnte die Karte speichern. Am weitesten geht die Idee, alle Daten über Behandlungen, Krankheiten, Medikamente, dazu alle Befunde, z.B. Röntgenbilder oder Labordaten, in einer zentralen, digitalen Krankenakte zu speichern, auf die man mit Hilfe der Karte zugreifen kann. "Das würde Mehrfachuntersuchungen und falsche Verordnungen unwahrscheinlich machen und viel Zeit sparen", sagt Dr. Klaus Juffernbruch, bei IBM BCS (Business Consulting Services) für den Bereich Healthcare EMEA Central Region zuständig. All das soll schrittweise realisiert werden.
Partner und ihre Aufgaben beim Gesundheitskarten-Projekt IBM: Projektleitung, Methodik, Rahmenarchitektur, Referenzmodelle, Sicherheitsaspekte
Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (FHG IAO): Wissenschaftliche Begleitung, Akzeptanzsicherung, Qualitätssicherung, Standards, Evaluierung Testphase
SAP: Prozessbeschreibungen, Rahmenarchitektur, Sicherheitsaspekte
Inter Component Ware: Einbindung in existierende Systeme, Referenzmodell
Orga: Kartenrelevante Aspekte, Referenzmodell für Kartennutzung
Damit das gesamte Vorhaben nicht wie Toll Collect in Chaos und wechselseitigen Schuldzuweisungen endet, gibt es zur Zeit zwei Projektbüros in Bonn und Berlin direkt im Gesundheitsministerium. Im Bonner Büro werkeln bis zu 40 Mitarbeiter der unterschiedlichen Projektpartner in wechselnder Besetzung, in Berlin sitzen lediglich fünf leitende Projektmitarbeiter. Zwischen den Büros findet ein reger Austausch statt.
Sehr wichtig ist allen Beteiligten größtmögliche Offenheit. Alle erarbeiteten Ergebnisse werden umgehend im Rahmen von Workshops kommuniziert, an denen Vertreter aller von dem Projekt betroffenen Gruppen teilnehmen. Dort wird auch Feedback zu den Ergebnissen gesammelt und in den weiteren Entwicklungsprozess eingespeist. Außerdem befinden sich auf der Website des Deutschen Institutes für Medizinische Dokumentation und Informatik (DIMDI, www.dimdi.org) für jedermann zugängliche ausführliche Informationen. "Wir setzen auf einen konsolidierten Kommentierungs- und Verbesserungsprozess, der dafür sorgt, dass wir am Ende keine bösen Überraschungen erleben", sagt Projektleiter Albers. An so viel Transparenz könnte sich manches andere E-Government-Projekt ein Beispiel nehmen.
Freilich wird erst die Implementierung zeigen, ob alle Akteure mitziehen und auch wirklich alle Eventualitäten berücksichtigt wurden. Unter besonderem Druck stehen derzeit die Krankenhäuser: Sie müssen wegen des kürzlich eingeführten Fallpauschalen-Systems bei der Abrechnung ohnehin ihre gesamte DV umstellen. Dabei stecken sie in der Zwickmühle: Einerseits brauchen sie eine anspruchsvollere EDV, andererseits fehlt aber das Geld dafür. Also denken die Betreiber vermehrt an Outsourcing. Das ist heute aus Datenschutzgründen aber nur beschränkt möglich. An technischen Entwicklungen, die Outsourcing bei gleichzeitig sehr hohem Sicherheitsniveau erlauben, wird von den Herstellern gearbeitet, genau wie an neuen, verbrauchsorientierten Bezahlmodellen für solche Outsourcing-Verträge - ein wichtiger neuer Markt für spezialisierte IT-Dienstleister.
Darin sieht auch IBM eine Chance. Big Blue erhofft sich von einem erfolgreichen Abschluss des anspruchsvollen Vorhabens, dass sein Ruf als Anbieter anspruchsvoller Services und Beratung gefestigt wird. "Unser Image ist immer noch eher das eines klassischen IT-Lieferanten, obwohl wir schon seit 15 Jahren Dienstleistungen anbieten und damit mittlerweile mehr umsetzen als mit Hard- und Software", sagt Healthcare-Spezialist Juffernbruch.