Seit der Vorstellung der virtualisierungsfreundlichen UCS-Plattform im März 2009 hat sich Cisco schnell als Unruhestifter im Rechenzentrum etabliert. Im Juni 2010 hat Cisco dann mit dem Cius den Enterprise-Tablet-Markt ins Visier genommen. Vor diesem Hintergrund überraschte es kaum, dass der Anbieter sich nun mit dem Launch der Virtualization Experience Infrastructure (VXI) dem virtualisierten Desktop widmet.
Warum das Interesse an Desktops? Cisco entwickelt sich von einer reinen Netzwerk-Company zu
einem Unternehmen, das sich sehr (wenn nicht gar überwiegend) für die Entstehung und den Konsum von
Daten interessiert statt nur für deren Bewegung von A nach B. Laut Barry O’Sullivan, Ciscos Senior
Vice President Voice Technology, betrachtet Cisco seine Kern- und neuen Märkte als verflochten und
komplementär. Die meisten seiner neuen Produkte nutzen das Internet und steigern damit den
Datenverkehr auf dem darunter liegenden Netzwerk-Equipment.
Der Schritt zur Desktop-Virtualisierung ist also völlig stimmig für ein Unternehmen, das Bits
ebenso gerne erzeugt wie bewegt. Allerdings ist nicht ganz klar, ob jeder bei Cisco die
Herausforderungen der Desktop-Virtualisierung wirklich versteht. Angela Collins schreibt im Cisco
Analyst Relations Blog: „Das System addressiert den aktuellen Zustand fragmentierter Lösungen, die
Virtual-Desktop-Deployments erschweren.“ Sicher hilft VXI, die physische Komplexität von
Virtual-Desktop-Implementierungen zu senken, aber wiederholt hat sich gezeigt, dass die primären
Herausforderungen die Kosten für die Speicherskalierung und die heterogenen Endpunkte sind, die
zwangsläufig mit der Desktop-Virtualisierung einhergehen. Darauf muss Cisco erst noch eine Antwort
finden.
Die meisten sind mit Ciscos Vblock bereits vertraut. Die Versuchung liegt nahe, VXI schlicht als
Vblock for die Desktop-Virtualisierung zu betrachten. Das wäre allerdings eine Fehleinschätzung.
Man sollte VXI besser als eine offene Architektur für die Bereitstellung Server-seitig gehosteter
virtueller Desktops betrachten, basierend auf über Cisco bezogenen Standard-Endgeräten,
Cisco-Netzwerkinfrastruktur und der Cisco UCS (Unified Computing System) Compute Engine im Verbund
mit NAS- oder SAN-basierter Storage-Infrastruktur aus Ciscos Partner-Ökosystem. Die
Schlüsselbegriffe sind hier „offen“ und „Ökosystem“: Cisco weiß, dass man so etwas Komplexes wie
Desktop-Virtualisierung nicht allein angehen kann und deshalb zumindest einen gewissen Grad an
Offenheit bieten muss. Dies zeigt sich insbesondere in der Wahl der Softwarepartner für die
Desktop-Virtualisierung: Statt eine exklusive Beziehung mit einem Desktop-Virtualisierungsanbieter
aufzubauen, arbeitet Cisco hier mit Citrix wie auch mit VMware zusammen. Cisco erkennt auch die
Existenz der zahlreichen externen Thin-Client-Anbieter an und erlaubt es, sie in die
VXI-Architektur einzubinden. Diese Offenheit kennt aber auch Grenzen: Weitere Lösungsanbieter von
Desktop-Virtualisierungssoftware kommen in der Referenzarchitektur nicht vor, und Cisco bevorzugt
immer noch VMware, wenn es um die Hypervisorenplattform geht, auf der die
Virtual-Desktop-Infrastruktur läuft. Bei VXI heißt es: Vsphere oder gar nicht. Cisco erwähnt die
Möglichkeit einer verteilten Virtual-Desktop-Infrastruktur ebenso wenig wie die einer eventuell
nötigen Partnerschaft mit anderen Anbietern aus dem Ökosystem, wenn es um Druck- oder
Personal-Management-Services geht.
Cisco hat zwei „VXC-Geräte“ (Virtualization Experience Client) vorgestellt, dem Rest der Welt
unter dem Namen „Thin Client“ (TC) bekannt. Der Cisco VXC 2200 ist ein konventioneller TC; sein
einziges herausstechendes Feature ist, dass man ihn via Power over Ethernet betreiben kann (Cisco
hat nicht angegeben, ob 802.3at Typ 1 oder Typ 2 erforderlich ist), ebenso über eine optionale
Stromversorgung. Der VXC 2100 ist wahrscheinlich das interessantere Gerät. Ebenfalls PoE-tauglich,
ist es darauf ausgelegt, sich rückseitig in Ciscos Unified Communications IP Phones einstecken zu
lassen. So entsteht praktisch ein „Zero Footprint“-Gerät. Der VXC 2100 bietet die physische
Integration von Telefon und Thin Client, aber noch keine Integration der Services oder des
Managements. Überraschenderweise hat Cisco noch keine Wi-fi-tauglichen TCs angekündigt, um
Organisationen zu unterstützen, die sich vom verkabelten Desktop verabschieden wollen.
Beide Geräte wird es in zwei Versionen geben, eine ausgelegt auf Unterstützung von Citrix‘
HDX-Protokoll, das andere mit Support für VMware/Teradicis PCoIP-Protokoll (PC over IP). Beide
Geräte unterstützen RDP. Cisco bezeichnet sie als „Zero Clients“, definiert diesen Begriff aber
ungewöhnlicherweise als „relativ einfache, funktional limitierte Geräte mit Betriebssystemen, die
dem Endanwender vorenthalten werden“; Thin Clients hingegen seien „funktionsreicher als Zero
Clients und normalerweise anpassbar.“ Diesen Definitionen würden Wyse und andere TC-Hersteller
sicher widersprechen.
Abgerundet wird Ciscos Endgerätepalette durch das erwähnte Cius-Tablet. Laut Cisco soll der
künftig verfügbare Cius VMwares View Client, den Citrix Receiver und den Wyse Pocket Cloud
Desktop-Virtualisierungs-Client unterstützen. Wichtig ist hier: Alle drei Clients werden auf der
Cius-Plattform unterstützt, aber es gab keine Anzeichen, ob es einen bevorzugten Anbieter geben
könnte oder mit welchem dieser Clients Cius vorab bestückt geliefert wird. Da sowohl der VMware-
wie auch der Citrix-Client gratis sind, ist es wahrscheinlicher, dass einer oder beide
vorinstalliert sein werden, als dass Cius mit Wyse Pocket Cloud ausgeliefert wird.
Cisco äußert sich nicht öffentlich zu den Aussichten vorinstallierter
Desktop-Virtualisierungs-Clients, und die Komplexität sich überschneidender Geschäftsbeziehungen
und Techniken erschwert die Prognose, welchen Weg Cisco einschlagen wird. Der Anbieter hat eine
enge Beziehung zu VMware, und die Stärke der VCE-Koalition (Virtual Computing Environment) mit EMC
und VMware sowie das Acedia Solutions Joint Venture mit EMC könnten Ciscos Entscheidung
beeinflussen. Angesichts der von Cisco betonten Video-Conferencing-Funktionen des Cius-Tablets und
der Probleme des von View verwendeten PCoIP-Protokolls bei der Multimedia-Übertagung via Virtual
Desktop könnte Cisco allerdings Citrix Receiver und das Citrix-HDX-Protokoll als vorteilhafteren
Weg wählen.
Ciscos zahlreiche Netzwerkprodukte machen den Großteil des VXI-Angebots aus. Abgesehen von den
grundlegenden Netzwerkverbindungen, die Ciscos Catalyst und Nexus Series Switches liefern, sind die
wesentlichen Netzwerkkomponenten innerhalb von VXI Ciscos Wide Area Application Services (WAAS)
WAN-Beschleuniger und die ACE Load-Balancing-Appliances.
Wenn Cisco eigene Netzwerkhardware als Teil von VXI anpreist, hängt der Wertbeitrag großteils
von den Vorteilen ab, die diese bei der Bereitstellung von Rich-Media- und Collaboration-Services
wie VoD- und VoIP-Services (Video on Demand, Voice over IP) bieten, sowie von ihrem Einfluss auf
die Skalierbarkeit Server-seitig gehosteter Virtual-Desktop-Umgebungen. Zum Beispiel ermöglicht VXI
Endanwendern laut Cisco dank dem hauseigenen Unified Personal Communicator Sprach- und Videoanrufe
auf ihren virtualisierten Desktops. In diesem Szenario fließt der Kontrolldatenverkehr vom Endgerät
zum Virtual Desktop, aber der eigentliche Multimedia-Verkehr direkt von Telefon zu Telefon, ohne
dass der Sprach- oder Video-Traffic durch den Virtual Desktop im RZ zu leiten wäre. Diese
Separation von Rich-Media- und Virtual-Desktop-Traffic erlaubt den Einsatz unterschiedlicher
QoS-Regeln (Quality of Service) für beide Verkehrsarten. Zugleich verbessert sie die Skalierbarkeit
der Host-Systeme und minimiert die Varianzen in der Performance der Remote-Display-Protokolle der
konkurrierenden Anbieter.
Die Standardisierung auf Cisco-Netzwerkinfrastruktur sollte Widerstände gegen VXI bei der
Netzwerktruppe im Unternehmen abbauen, mindert aber die Chancen, anbieterspezifische
Desktop-Virtualisierungslösungen einzusetzen, die den Remote-Display-Protokollverkehr optimieren.
Im Augenblick benachteiligt der Ansatz Citrix-Xendesktop- stärker als
VMware-View-Implementierungen. Zum Beispiel können die WAAS WAN-Beschleuniger Citrix‘ HDX-Protokoll
komprimieren, aber nicht die Virtual Channels im Protokoll untersuchen und individuell verarbeiten.
Cisco bietet auch keine Single-Click-Integration zwischen seinen Load-Balancing-Appliances und
Citrix Web Interface. Eine explizite Unterstützung von Komponenten wie Citrix Netscaler und Citrix
Branch Repeater würde es ermöglichen, die Virtual-Desktop-Performance besser zu optimieren, als
dies mit Ciscos eigenen Netzwerkgeräten möglich ist. Unternehmen, die die bestmögliche
Virtual-Desktop-Performance erzielen wollen, werden deshalb von der VXI-Referenzarchitektur
abweichen müssen.
Das Herz von VXI ist ganz klar Ciscos Unified Computing System, das Rechenleistung, Netzwerk,
Speicherzugriff und Virtualisierung zu einem einzigen integrierten, energieeffizienten System
vereint. UCS ist von Grund auf als Virtualisierungsplattform konzipiert. Dies zeigt sich, wo immer
man hinschaut, schon bei den Server-Blades selbst: Die Zwei-Socket-UCS-B250-Blades unterstützen bis
zu 384 GByte DDR3-Speicher und 40 GBit/s I/O. Dank Intels aktuellen Xeon 5600 (Westmere)
Multicore-Prozessoren mit VT-d, VT-c, VMDc und VMDq kann ein einzelnes Blade je nach Anforderungen
50 bis 200 Virtual Desktops bedienen. Angesichts der Höchstzahl von 160 Blades per
UCS-Management-Domäne kommt man so auf 32.000 Virtual Desktops.
Ciscos Nexus 1000V Virtual Ethernet Switch spielt eine wichtige Nebenrolle für VXI: Er liefert
Ethernet-Switching, Traffic-Isolation sowie das Festlegen von Richtlinien für Virtual Desktops.
Zudem vereinfacht er den Support für Vmotion durch Beibehaltung der IP-Addresse und der
zugewiesenen Policies, wenn ein Virtual Desktop auf einen anderen Server migriert wird.
Wie erwähnt hat Cisco die Auswahl der Virtualisierungsplattformen auf VMware Vsphere und den
ESXi-Hypervisor begrenzt. Cisco nimmt dazu zwar nicht öffentlich Stellung, aber diese Restriktion
hängt wohl damit zusammen, dass Nexus 1000V nicht auf Xenserver verfügbar ist, oder mit Bedenken
zur Konkurrenzsituation mit dem Open Vswitch, den es für Xenserver, Xen und KVM, aber bislang nicht
für Hyper-V oder ESXi gibt. Eine Kränkung von Citrix ist wohl nicht beabsichtigt. Sollte, was
wahrscheinlich ist, der Marktanteil von Xenserver weiter steigen, wird Cisco möglicherweise
erwägen, irgendwann auch eine Xenserver-spezifische Version des Nexus 1000V anzubieten.
Cisco VXI unterstützt NAS- und SAN-basierte Speicherlösungen (Network-Attached Storage, Storage
Area Network) zahlreicher Ökosystempartner wie EMC und Netapp. Dazu dient die Kombination aus Cisco
MDS 9000 Series Fibre Channel Switches und Cisco UCS 6100 Fabric Interconnects.
Die UCS-Management-Plattform bietet Unterstützung für dedizierte Administration jeder einzelnen
Komponententechnik. Dies erleichtert heutigen IT-Organisationen die Integration: Durch die
Delegation von Rechen-, Speicher- und Netzwerkaktivitäten an die entsprechenden
Administrationsgruppen innerhalb der IT lassen sich die UCS-Plattformen in IT-Organisationen
einfügen, ohne für effektive Support-Services eine Restrukturierung zu erfordern.
Die UCS-Management-Services sind für eine Cloud-basierte Management-Struktur optimiert. Anstelle
einer Verwaltung individueller Blades innerhalb der Fabric werden Blades als zustandslose Geräte
betrachtet: Service-Profile werden hier Lokationen innerhalb von Enclosures zugewiesen, und jedes
Blade, das man in einen spezifischen Slot einfügt, nimmt die zugewiesene Charakteristik an. Dies
vereinfacht das Hardware-Lifecycle-Management erheblich.
Dieses Abstraktionsniveau erstreckt sich bis hinunter zum BIOS-Level. Dies garantiert die
Kompatibilität der Images und verhindert die Möglichkeit, dass Changes Fehler verursachen, sollte
ein defektes Blade durch ein neues zu ersetzen sein. Das UCS-Management-System integriert sich über
eine offene API in viele Third-Party-System-Management-Tools. Anbieter wie BMC, CA, EMC, IBM und
Microsoft verknüpfen ihre Management-Lösungen bereits direkt mit UCS.
Man kann VXI als einzige integrierte Lösung betrachten oder als separate Schichten, die man nach
Belieben mit anderen Third-Party-Komponenten mischen kann. Zwar würde es Cisco bevorzugen, wenn
seine Kunden es als integriertes Ganzes installieren würden. Doch tatsächlich hält nichts
Service-Provider und Endanwender davon ab, ihren eigenen Desktop-Virtualisierungs-Stack zu
assemblieren und dabei VXI-Komponenten nur dort einzusetzen, wo sie diese für geeignet halten. In
der Tat sind die Vorteile, die sich aus der Betrachtung von VXI als integrierte Architektur
ergeben, begrenzt. Potenzielle Kunden sollten beachten, dass sich (wenn überhaupt) nur wenige der
Probleme im Desktop-Virtualisierungsumfeld direkt durch Standardisierung auf einer
herstellerspezifischen Plattform aus Endgeräten, Netzwerk und Data Center lösen lassen. Langfristig
ist es durchaus möglich, dass Cisco durch umfassende Integration von Sprach- oder Daten-Services
mittels integrierter Endgeräte beträchtlichen Mehrwert liefert, aber das bleibt abzuwarten.
Das Cius-Tablet dürfte bei Unternehmenskunden auf Zuspruch stoßen, insbesondere im Vergleich mit
dem äußerst unternehmensunfreundlichen Apple Ipad. Allerdings gilt dies nicht auch für die VXC Thin
Clients. Derzeit heben sich diese Geräte kaum von konkurrierenden Angeboten etablierter
Thin-Client-Hersteller ab. Von den beiden Geräten dürfte der VXC 2100 für Ciscos
Unified-Communications-Bestandskunden attraktiv sein. Ein einheitliches Management der IP-Telefone
und des VXC 2100 wäre ein willkommener nächster Schritt besonders für Call-Center-Umgebungen.
Angesichts der Heterogenität heutiger Desktop-Anforderungen sollte Cisco, um eine überzeugende
Desktop-Virtualisierungslösung zu liefern, letztlich auch Unterstützung für Client-seitig gehostete
Virtual Desktops als Bestandteil seines Gesamtpakets vorsehen. Dies heißt nicht, dass Cisco diese
Techniken selbst auf den Markt bringen muss; vielmehr heißt es, Cisco muss sicherstellen, dass
seine Marketing-Message die große Diversität der Desktop-Virtualisierungstechniken anerkennt und
die passenden Partnerschaften bietet, um die Desktop-Virtualisierungsbedürfnisse aus einer Hand
bedienen zu können. Eventuell könnte die Erweiterung der bestehenden VXC-Thin-Clients um etwas in
der Art der kürzlich von Wyse vorgestellten „Cloud PCs“ ein nützlicher Folgeschritt sein.
Als neues Angebot ist Cisco VXI beeindruckend, aber es bedarf noch einiger Arbeit, bevor es eine
wirklich überzeugende Desktop-Virtualisierungslösung darstellt. Vorausgesetzt, dass Cisco sich
weiter für diese Entwicklung engagiert, sollte VXI Cisco und seinen Kunden langfristig Vorteile
bieten. Im Augenblick aber benötigt Cisco vor allem Kunden mit einer Vision, um über die Mängel von
VXI hinwegzusehen und die Möglichkeiten aufzugreifen, die die Plattform eröffnet. Für Cisco besteht
das größte Potenzial bei Organisationen, die sich für die langfristigen Vorteile
Rich-Media-gestützter Kommunikation und Collaboration begeistern. Hier kann Cisco die größten
Benefits liefern, und hier muss Cisco sich am meisten anstrengen, VXI weiterzuentwickeln.