Video erobert den Business-Alltag

Erlebnis Kommunikation

5. Januar 2012, 7:00 Uhr | Stefan Mutschler/pf

150 Jahre nach der Erfindung des Telefons scheint die elektronische Kommunikation eine neue Dimension des virtuellen Miteinanders zu erreichen. Prägendes Element ist das "Sehen" - Video, visuelle Effekte, virtuelle visuelle Umgebungen und Avatare. Dabei integriert sich die visuelle Kommunikation via IP und SIP in Telefonie- und Unified-Communications-(UC-)Landschaften, die zunehmend auch mobile Geräte wie Smartphones und Tablet-PCs einschließen. Als i-Tüpfelchen erbt die mehrdimensionale Kommunikation die einfache Bedienung und App-Freudigkeit von Geräten im Stil des Iphones.Als das italienische Allround-Genie Antonio Meucci für seine wegen schweren Rheumas ans Haus gefesselte Ehefrau im Jahr 1854 eine Fernsprechverbindung entwickelte, erntete er im Wesentlichen Unverständnis und Ablehnung. Gleiches gilt für den französischen Erfinder Charles Bourseul, der zur gleichen Zeit in Paris an der elektrischen Übertragung der menschlichen Stimme arbeitete und ebenfalls 1854 in der Zeitschrift L?Illustration de Paris den Artikel "Téléphonie électrique" veröffentlichte, in dem er die Idee des Telefons beschrieb.

Und auch den Deutschen Philipp Reis, der ebenfalls in dieser Zeitperiode an einem Fernsprecher arbeitete (den er 1860 funktionstüchtig vor Laien, ein Jahr später offiziell vorstellte) und der auch den Begriff "Telefon" prägte, ereilte dieses Schicksal. Nur wenige erkannten in dem nur in eine Richtung übertragenen, kaum verständlichen Gekrächze über eine mit einfachsten Mitteln zusammengebauten Apparatur ein Objekt, das für die Gesellschaft irgendwie von Nutzen sein könnte. An seinem Sterbebett soll Reis laut Überlieferung lamentiert haben: "Ich habe der Welt eine große Erfindung geschenkt, anderen muss ich nun überlassen, sie weiterzuführen". Dieser andere war - und das steht in jedem Geschichtsbuch, der nach den USA emigrierte Schotte Alexander Graham Bell, der in seiner neuen Heimat am 14. Januar 1876 ein Telefon zum Patent anmeldete, Ruhm und Reibach erntete, ein Firmenimperium aufbaute und den Globus ins "Kommunikationszeitalter" führte. Die Überreste dieses Imperiums bilden heute in Form der "Bell Laboratories" die stolze Innovationsschmiede von Alcatel-Lucent.

150 Jahre nach dem Reis´schen Telefon, dessen gemeinhin weitgehend ignorierten Jahrestag wir zum Anlass für den kleinen Exkurs in die Anfangszeit des Telefons nahmen, hat sich aus der holperigen Einbahnstraße des Fernsprechens eine Mehrspurautobahn entwickelt, auf der neben Sprache und Audio in Hi-Fi-Qualität auch hochauflösende Videos und nahezu beliebig kombinierbare Zusatzdaten gleichzeitig in beide Richtungen fließen. Das Bemerkenswerte daran ist nicht die Tatsache, dass so etwas heute möglich ist - die technischen Grundlagen dafür sind in den letzten 25 Jahren organisch gewachsen, sondern dass es in einfach zu bedienender Form als bezahlbare Dienstleistung umgesetzt ist.

Videokommunikation wird massentauglich

Den hinsichtlich "Präsenzerlebnis" neben Bandbreite maßgeblichen Faktor stellt die Videokomponente dar. Sie hatte es lange Zeit schwer, außerhalb exorbitant teurer Videokonferenzräume für Top-Manager von Großkonzernen Fuß zu fassen, sowohl in der privaten Kommunikation als auch im Business. "Gerade wenn kleine und mittelständische Unternehmen wachsen und ihren Betrieb auf mehrere Büros beziehungsweise Standorte verteilen, geht dies nicht selten zu Lasten der Erreichbarkeit und damit der Produktivität der Mitarbeiter", moniert Robert Ehses, Senior Vice President Small and Medium Enterprises bei Siemens Enterprise Communications. "Daher müssen diese KMUs - vor allem, wenn sie sich in einer Expansionsphase befinden - unbedingt die Kommunikation und Zusammenarbeit als Ganzes sicherstellen, und dazu gehört heute ganz klar auch Video." Inzwischen besteht der weltweite Datenverkehr schon zu einem guten Drittel aus bewegten Bildern. Bis 2014 soll dieser Wert auf über 90 Prozent emporschnellen, prognostiziert zumindest der VNI Forecast von Cisco. Und die Hersteller übertrumpfen sich bei ihren visuellen Lösungen gerade gegenseitig mit Ideen und Lösungen. Basis ist eine deutliche Verbesserung der Videoqualität an sich: Die meisten neuen Lösungen bieten "High Definition" (HD, 720 Bildzeilen) oder sogar "Full HD" mit 1.080 Bildzeilen. Mit den diffusen Ruckelbildern von früher hat dies nichts mehr zu tun. Der Grund, warum sich gerade jetzt Videolösungen hoher Qualität auf dem Massenmarkt durchsetzen können, liegt in mehreren Trends, die insgesamt zu sehr guten Rahmenbedingungen führen. Dazu zählen zum Beispiel:

Die geografische Verfügbarkeit von Bandbreiten mit mehr als 10 MBit/s ist drastisch gewachsen - in Deutschland allerdings nach wie vor primär auf die Ballungsgebiete begrenzt.

Die Verfügbarkeit hoher, stabiler Bandbreiten ging deutlich nach oben. Die globale Studie "Broadband Quality Study 2010" der University of Oxford kam zu dem Ergebnis, dass allein im untersuchten Jahr 2010 die Netzwerkqualität im Länderdurchschnitt um 24 Prozent anstieg.

Die Codec-Effizienz hat sich verbessert: Video-Codecs nach H.264-Standard beispielsweise liefern bei gleicher Bandbreite einen dreifach höheren Nettodatendurchsatz als der Vorgänger H.263. Das Mehr an Bandbreite lässt sich also auch noch deutlich effektiver nutzen. Ein HD-Videokanal benötigt somit heute nur noch 1 bis 2 MBit/s (bei 720p beziehungsweise 1.080p).

Neue Protokollergänzungen wie H.264/SVC (Scalable Video Codec) entschärfen durch intelligente Anpassungen des Video-Streams an die aktuelle Bandbreite in Echtzeit das Problem stark schwankender Bandbreiten in öffentlichen Netzen. Die Verbreitung dieses Standards in kommerziellen Produkten hat allerding gerade erst begonnen.

Techniken wie Packet Loss Recovery (PLR), die verschiedene Hersteller zur Wiederherstellung bei der Übertragung verlorener Paketdaten entwickelt haben, stabilisieren zusätzlich die Verbindung bei Videoübertragungen - wenn auch auf proprietäre Art und Weise.

Die Preise für Breitbandanbindungen sind deutlich gesunken - DSL-Flatrates mit 16 MBit/s sind heute bereits für unter 20 Euro im Monat erhältlich.

Diese und weitere Faktoren katapultieren die Zahl möglicher Nutzer von Videolösungen auf ein Niveau, das es für Anbieter sehr lukrativ macht, ganz vorn im Markt mit dabei zu sein. Dennoch ist das Feld der Kontrahenten auf diesem Sektor vergleichsweise übersichtlich: Cisco hat seine Dominanz aus dem Netzwerkgeschäft auch auf die Videokommunikation ausdehnen können. Der Zukauf von Tandberg hat den Abstand zu den Verfolgern weiter vergrößert. Zu den Mitspielern, die ihr Geschäft ausschließlich oder zum großen Teil mit Videokommunikation bestreiten, zählen der von Logitech übernommene Hersteller Lifesize (seit Kurzem verschwistert mit Mirial, den Logitech zur Erweiterung des Lifesize-Portfolios um mobile Lösungen hinzugekauft hat) sowie Polycom (seit kurzem im Besitz des Video-Collaboration-Softwareanbieters Vivu). Beide reklamieren für sich eine Art Technologieführerschaft - mit unterschiedlichen Akzenten. Nennenswert sind in dieser Kategorie zudem Radvision und als einer der wenigen Newcomer Vidyo.

Für die Key-Player aus der TK-Welt bildet Video-Conferencing gleichsam die natürliche Erweiterung ihres Telefonie-/UC-Angebots: So mischen auch Hersteller wie wie Alcatel-Lucent, Avaya, Siemens Enterprise Communications und seit jüngerer Zeit auch Huawei in der Video-Conferencing-Szene kräftig mit. Auch Microsoft sei hier erwähnt, auch wenn das Unternehmen selbst keine Videolösung inklusive Hardware anbietet. Windows Server mit Lync stellt jedoch eine wichtige, videointegrierende UC-Plattform dar für elementare Collaboration Tools wie Microsoft Exchange oder Sharepoint, die in vielen Unternehmen zum Einsatz kommen. Die Integration mit Lync gilt für Video-Conferencing-Plattformen als wichtiges Entscheidungskriterium, vergleichbar nur noch mit dem Telepresence Interoperability Protocol (TIP) von Cisco, auf dessen Basis der Marktführer herstellerübergreifende Interoperabilität anbietet.

Virtuelle Welten für realistische Präsenz

Bei den Lösungen, die einschlägige Player jetzt rund um qualitativ hochwertige Videokonferenzen beziehungsweise Video-Collaboration anbieten, lassen sich mindestens fünf markante Trends ausmachen:

Klar strukturierte Integration von Video in ein UC-Gesamtsystem unter einer einheitlichen, intuitiv handhabbaren Benutzeroberfläche - oft mit Touchscreen und einer dem Iphone nachempfundenen Steuerung.

Ergänzung der klassischen UC-Kommunikationskanäle wie Telefonie, E?Mail, Messaging, Video etc. mit sozialen Medien wie Linkedin, Xing, Facebook oder Twitter.

Anreicherung der visuellen Kommunikation auf den Nutzerbildschirmen zum Beispiel durch Verlagerung der vom Hintergrund freigestellten Teilnehmer einer Videokonferenz in einen gemeinsamen Raum oder eine gemeinsame Umgebung. Eine andere Variante stellt die optische Virtualisierung auch der Teilnehmer dar: Statt eines Streams mit dem Realbild schicken die Teilnehmer hier einen individuell gestaltbaren Avatar ins Rennen.

Einbeziehung mobiler Geräte wie Smartphones und Tablet-PCs à la Ipad in den Kommunikationsverbund - zunehmend auch inklusive HD-Video.

Spezialisierte Applikationen ergänzen die Funktionen der UC-Lösungen, idealerweise über einen möglichst vielfältig gespeisten Online-Kiosk und damit erneut nach einem Modell, das dem kreativen Kopf des kürzlich verstorbenen Apple-Mitbegründers Steve Jobs entsprang.

So genannte "immersive" Techniken wie die Projektion des Livebilds in eine gemeinsame virtuelle Umgebung lassen die Konferenzteilnehmer gleichsam in diese "eintauchen" und sollen so das Präsenzerlebnis steigern. Avatar-Steuerungen hingegen zielen auf ein gänzlich anderes Einsatzgebiet. Dabei lassen sich komplette virtuelle Szenarien aufbauen, in denen sich der Avatar dann frei bewegen kann - zum Beispiel Verkaufs-/Ausstellungsräume, Schulungsräume für Workshops oder Firmengebäude mit verschiedenen Büros, Besprechungszimmern, Auditorium etc. Die weiteren in dieser Umgebung präsenten Personen erscheinen ebenfalls als Avatare - die Kommunikation erfolgt entweder über die Tastatur oder einen Sprachkanal.

Lässt ein Teilnehmer beispielsweise seinen Avatar an das Mikrofon auf dem zentralen Rednerpult treten, ist er für alle Teilnehmer hörbar. Zeigt er eine Präsentation an der großen Leinwand, können diese alle mitverfolgen. Er kann aber auch einen virtuellen Kollegen bitten, mit ihm in ein Besprechungszimmer zu gehen - so sind auch vertrauliche Gespräche oder Präsentationen im kleineren Kreis möglich. Das Ganze hat den Anstrich von "Second Life" als Business-Applikation. Der Verzicht auf einen Live-Video-Stream bringt dabei auch einen klaren Vorteil mit: Nachdem nur die Steuerbefehle, Sprache sowie gegebenenfalls Messaging-Texte und Dokumenteninhalte über die Leitung geschickt werden, bleiben die Bandbreitenanforderungen gering. Mit "Web.alive" hat zum Beispiel Avaya kürzlich eine Cloud-basierende Online-Collaboration-Plattform nach diesem Muster vorgestellt.

Damit ist zudem klar, dass auch klassische Endgeräte wie etwa das Tischtelefon ihren Lebenshorizont bereits überschritten haben und nach und nach durch eine neue Gerätegeneration ersetzt werden. Diese verfügt mit Touchscreen (verschiedene Größen bis hin zu der eines Tablet-PCs), Bluetooth, WLAN und vielem Weiteren über eine ähnliche Ausstattung wie Smartphones. Vor allem aber bieten diese neuen Endgeräte über einen App-Store auch eine ähnliche Flexibilität bei den Einsatzfeldern und individuellen Funktionen.

Dank HSPA(+) und LTE haben die Bandbreiten in öffentlichen Mobilfunknetzen inzwischen nominell mit den gängigsten DSL-Geschwindigkeiten gleichgezogen: Über das auf UMTS basierende HSPA kommen bei aktuellen Geräten Daten mit Geschwindigkeiten bis zu 14 MBit/s beim Nutzer an - bei LTE sind es sogar 50 MBit/s und mehr. Auch wenn die Werte in der Praxis deutlich darunter liegen - was netto übrig bleibt, reicht in vielen Fällen immer noch als valide Grundlage für visuelle Übertragungen. Und davon machen die einschlägigen Anbieter mit ihren UC-Plattformen regen Gebrauch. Lösungen wie zum Beispiel Realpresence Mobile von Polycom laufen inzwischen auf den meisten populären Tablet-PCs wie dem Ipad 2 von Apple, dem Xoom von Motorola und dem Galaxy Tab 10.1 von Samsung. Ähnliche Lösungen gibt es zum Beispiel auch von Lifesize und Vidyo. Somit können mobile Anwender über das Mobilgerät ihrer Wahl von Angesicht zu Angesicht mit Kollegen kommunizieren - ganz gleich, ob diese über Desktop-PC, immersive Videokonferenzraumsysteme, Tablet-PCs oder Notebooks verbunden sind.

Was lebendige Business-Kommunikation anbelangt, ist das Ende der technischen Entwicklungen damit bei weitem noch nicht erreicht. Im Gegenteil: Dreidimensionales Conferencing findet bereits in Feldversuchen statt - und in weniger als fünf Jahren erscheinen die Gesprächspartner als holografische 360-Grad-Projektion ohne Bildschirm im Raum, so jedenfalls eine Einschätzung, die von Cisco kürzlich zu hören war.

Der Autor auf LANline.de: ElCorrespondente

Video-Conferencing ist heute zunehmend integraler Bestandteil von Unified-Communications-Lösungen: So kommt Videokommunikation kostengünstig an jeden Arbeitsplatz - eine einfache Web-Kamera genügt als Grundausstattung vor Ort. Bild: Siemens Enterprise Communications

Für bestimmte Formen der visuellen Kommunikation ist es zweckmäßig, anstelle eines Livevideo-Streams mit Realbildern eine virtuelle Umgebung mit Avataren einzusetzen - zum Beispiel bei Versammlungen oder Präsentationen mit vielen Teilnehmern. Bild: Avaya

Dank hoher Bandbreiten im Mobilfunknetz und gegenüber Bandbreitenschwankungen toleranten Codecs lassen sich Videokonferenzen heute sogar auf dem Smartphone durchaus passabel abbilden. Bild: Vidyo

Immersive Techniken wie die Projektion des Livebilds in eine gemeinsame virtuelle Umgebung sollen das Präsenzerlebnis verbessern. Bild: Alcatel-Lucent
LANline.

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