Barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik sollte längst Standard sein. Denn: Die Zahl behinderter Menschen wächst stetig. Die Fortschritte der ITK-Branche sind ersichtlich, aber längst (noch) nicht befriedigend.
Von Claudia Rayling
funkschau führte ein Interview zum Thema „Barrierefreie moderne Kommunikationsmittel" mit Melanie Müller, als Diplom-Verwaltungswirtin zuständig für barrierefreie Informationstechnik beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
funkschau: Wie sehen die Aktivitäten des BMAS hinsichtlich „Barrierefreier moderner Kommunikationsmittel" aus?
Melanie Müller: Barrierefreie Informationstechnik nimmt einen großen Stellenwert für das BMAS ein. Unsere Aktivitäten auf diesem Gebiet verteilen sich unterschiedlich: Sie reichen von der Weiterentwicklung der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung über die Unterstützung der praktischen Umsetzung durch Projektförderungen bis hin zur „eGovernment-Strategie Teilhabe" des BMAS, dessen Herzstück das Portal www.einfach-teilhaben.de ist. Ziel der Strategie ist es, den Zugang und die Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien für Menschen mit Behinderungen weiter zu verbessern.
funkschau: Welche Bedeutung hat das Thema aus Ihrer Sicht, beziehungsweise wie viele Menschen sind hierzulande betroffen?
Müller: Barrierefreiheit ist für behinderte und schwerbehinderte Menschen Grundvoraussetzung für ihre Teilhabe am Leben in Gesellschaft und Beruf. In Deutschland leben derzeit rund sieben Millionen schwerbehinderte Menschen, wobei mehr als die Hälfte von ihnen 65 Jahre und älter ist. Diese Zahlen werden wachsen, denn der Anteil älterer Menschen wird sich im Jahr 2050 nahezu verdoppelt haben. Damit ist die barrierefreie Informationstechnik bereits heute ein wichtiges Thema.
funkschau: Wie steht es mit der Umsetzung der barrierefreien IT in Deutschland?
Müller: Rechtsgrundlage für barrierefreie IT ist die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV). Seit Mitte 2002 regelt sie für die Bundesbehörden, dass deren Webauftritte barrierefrei zu gestalten sind. Das wird flankiert von den Regelungen des von Deutschland im März 2009 ratifizierten VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Seit Einführung der BITV beobachten wir deutliche Fortschritte: Im letzten Ministerientest wurden fast alle getesteten Seiten als sehr gut, gut bzw. nahezu gut zugänglich bewertet. In einigen Bereichen des Bundes ist die Umsetzung noch nicht zufriedenstellend; hieran werden wir weiter arbeiten.
Die Überprüfung der BITV hat gezeigt, dass die Verordnung technisch und auch inhaltlich an die aktuelle Entwicklung anzupassen ist. Im Mittelpunkt der Überarbeitung stehen die technische Weiterentwicklung unter Einbeziehung der WCAG 2.0 sowie die Notwendigkeit, die besonderen Belange gehörloser, lern- und geistig behinderter Menschen besser zu berücksichtigen. Der Entwurf einer BITV 2.0 wird zurzeit abgestimmt.
funkschau: Welche technischen Mittel sind derzeit vorhanden, die ITK-Partizipation behinderten Menschen zu ermöglichen?
Müller: Im Bereich der ITK gibt es unzählige Möglichkeiten, die behinderten Menschen bereits jetzt die Teilhabe an der Informationstechnik erleichtern oder ermöglichen. Noch vor einigen Jahren dachte kaum jemand, dass und wie zum Beispiel ein blinder Mensch im Internet surft. Heute ist es dank Screenreader, Brailleausgabe und BITV eine Selbstverständlichkeit. Auch Gebärdensprachvideos und Untertitelungen halten Einzug ins Web. Herausforderungen für die Zukunft bleiben jedoch genug: Hierzu gehört beispielsweise die Klärung der Frage, wie man das Web für gehörlose Menschen, deren Muttersprache die Gebärdensprache ist und die komplexe Texte kaum verstehen, vollkommen zugänglich macht. Bereits jetzt gibt es technische Möglichkeiten zur Übersetzung englischer Texte ins Deutsche und umgekehrt. Eine solche Lösung für die automatische Übersetzung von Informationen in Gebärdensprache ist zwar noch nicht gefunden, aber vielleicht bald greifbar.
funkschau: Was halten Sie für besonders wichtig, um weitere Fortschritte bei der „digital inclusion for disabled persons" zu erzielen?
Müller: Barrierefreiheit ist im öffentlichen Sektor sehr gut gewährleistet. Im privatrechtlichen Bereich gibt es noch große Potenziale, die es zu nutzen gilt. Mit demm Behindertengleichstellungsgesetz wurde das Instrument der Zielvereinbarung eingeführt. Hiermit können Behindertenverbände gemeinsam mit der Wirtschaft Vereinbarungen zur konkreten Herstellung von Barrierefreiheit treffen. Dabei bietet sich insbesondere die ITK-Branche an. Da die Techniken recht schnelllebig sind und in der Praxis regelmäßig verändert und angepasst werden, ist es möglich, Maßnahmen zur Herstellung oder Verbesserung der Barrierefreiheit kurz- oder mittelfristig einzubinden.
funkschau: Wie kann die technische Entwicklung konstruktiv genutzt werden ohne gleichzeitig Nutzergruppen auszuschließen?
Müller: Um einzelne Gruppen bei der Weiterentwicklung neuer Techniken nicht außen vor zu lassen, ist ein Mainstreaming bei allen Beteiligten der Dreh- und Angelpunkt. Wir müssen erstens das Bewusstsein für barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnik schärfen. Der Fokus sollte hier auch auf die Ausbildung von Fachkräften gesetzt werden. Zweitens ist es wichtig, Kompetenzen zu bündeln und Netzwerke zu bilden. Nicht alle können Experten für alles sein; vielmehr geht es um Streuung des vorhandenen Wissens. Drittens ist es notwendig, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, Schulungen zu entwickeln, auszubauen und zu verbreiten.
Auf Basis einer solch breit angelegten Bewusstseinsbildung ist ein Mainstreaming von Barrierefreiheit mittelfristig möglich.