Kaninchen vor der Schlange: Konzerne und der deutsche Mittelstand blicken hilflos auf Google und Amazon. Eine Frischzellenkur auf der CeBIT könnte der Anfang sein, die Stockstarre zu lösen.
CRN: Herr Dietz, Sie hatten vor zwei Jahren davor gewarnt, dass der Software-Entwicklungsstandort Deutschland in Gefahr sei, den Anschluss an die USA und Asien zu verlieren. Stimmt diese Diagnose noch?
Ulrich Dietz: Ja natürlich! Der IT-Standort Deutschland ist in den vergangenen fünf Jahren nicht vorangekommen. Der Abstand beispielsweise zu den USA hat sich eher noch vergrößert. Die Internetwirtschaft, die ja sozusagen die Nachfolgeindustrie der Software ist, befindet sich hauptsächlich in den USA. Selbst Russland zieht mit hoher Geschwindigkeit nach. Wir dagegen stehen eher still und beschäftigen uns mit uns selber.
CRN: Woran liegt das?
Dietz: Das hat zwei Ursachen: Das Interesse an den MINT-Fächern wie Informatik, Physik oder Mathematik ist in Deutschland nach wie vor gering. Außerdem gibt es viel zu wenige Hochschulabsolventen, die aus der Uni kommen und sagen: ich will mich als Unternehmer selbständig machen. Dabei sind die Chancen heute so gut wie nie, sich mit IT-basierten Technologien selbständig zu machen. Da müssen wird darauf hinarbeiten, dass sich das ändert.
CRN: Fehlen Mut oder Ideen?
Dietz: Wir haben kürzlich bei GFT einen Vortrag von Rasmus Ankersen gehört mit dem Titel »Stay hungry in paradise«. Ich glaube, das ist genau unser Problem: Es geht uns sehr gut in Deutschland. Junge Menschen finden in der Industrie sehr gute Arbeitsplätze, junge Ingenieure verdienen hervorragend. Was fehlt ist die Bereitschaft, Härte aufzubringen, eine Firma zu gründen, Opfer – auch in finanzieller Hinsicht, in Kauf zu nehmen. Da muss man ganz schön dicke Bretter bohren. Schauen Sie sich andere Länder an wie China, Israel, Brasilien, Amerika. Da gibt es Tausende junger Menschen, die sich selbständig machen wollen und dafür alle möglichen Opfer auf sich nehmen. Das ist der große Unterschied zu Deutschland.
CRN: Haben Sie deshalb den Gründerwettbewerb CODE_n vor drei Jahren ins Leben gerufen?
Dietz: Die Idee dazu kam aus einer anderen Überlegung. Wir befinden uns in einem Zeitalter der digitalen Transformation und diesen Wandel hin zu einer digitalen Wirtschaft wollen wir beschleunigen. Themen wie Industrie 4.0 oder Internet der Dinge sehen wir als eine riesengroße Chance an, insbesondere für die deutsche mittelständische Industrie, wenn es den Unternehmen gelingt, ihre Produkte und Dienstleistungen in die digitale Welt zu transformieren. Dafür brauchen sie den Zugang zu Technologien und zu jungen Firmen, die ihnen helfen können, die Transformation schneller zu bewältigen. CODE_n bringt die Industrie mit den sehr innovativen und interessanten Startups zusammen und stellt den Link zur digitalen Industrie her.
CRN: Man hat ja nicht den Eindruck, dass die etablierte Wirtschaft eine solche Frischzellenkur sucht. Vorstände mächtiger Versicherungskonzerne zum Beispiel stehen vor den Internetgiganten Amazon und Google wie das Kaninchen vor der Schlange.
Dietz: Das ist nicht ausschließlich ein Problem des Top-Managements. Es gibt in der Versicherungswirtschaft, aber auch in anderen Sektoren, Tausende Mitarbeiter, die dem notwenigen Wandel sehr reserviert gegenüber stehen. Für viele bedeutet die Digitalisierung Veränderung, Veränderung der Prozesse, des Arbeitsplatzes, und dagegen regt sich Widerstand. Vielleicht ist das eine Generationenfrage, vielleicht werden die etablierten Unternehmen zehn Jahre brauchen, um den digitalen Wandel zu schaffen. Die Technologien werden unterdessen weiter dynamisch entwickelt. Die Gefahr ist riesengroß, dass aus dem Silicon Valley neue Spieler auftauchen, die die Industrie komplett umkrempeln. Es werden viele Firmen verschwinden, die heute noch ganz gemütlich ihre Profite erwirtschaften.
Im Übrigen wird es nicht nur Versicherungen, sondern auch Banken treffen. Apple und andere Konzerne der Internetbranche haben Zugang zu hunderten Millionen Kunden und deren Kontodaten. Die haben so viele Ideen und werden daraus auch was machen. Für eine Überweisung von einem zum andern iTunes-Konto brauche ich künftig nicht mehr zur Sparkasse zu gehen. In gewisser Weise schützt die Regulierung die Banken heute noch vor den neuen Playern.