Analysten bescheinigen dem Gros der IT-Abteilungen mangelnde Ausrichtung ihrer Arbeit an den Geschäftserfordernissen ihrer Unternehmen: Zu oft herrsche Silodenken vor, zu oft könnten überlastete Helpdesk-Mitarbeiter und IT-Spezialisten nicht über die aktuellen Problemfälle hinaus handeln und planen. Doch die Szenerie wandelt sich: Die Orientierung an praxisbewährten Prozessen (Best Practices) soll eine engere Verschränkung von IT-Alltag und Geschäftszielen bringen.
Immer mehr Anbieter von IT-Managementlösungen entdecken die populäre Best-Practice-Sammlung ITIL
(IT Infrastructure Library) als Vermarktungsinstrument. ITIL zielt darauf ab, die Abläufe in
IT-Abteilungen durch Umstellung auf klar strukturierte, serviceorientierte Prozesse in ein "
IT-Service-Management" (ITSM) umzubauen: Die IT hat sich an den Anforderungen des Anwenders – bei
ITIL: "des Kunden" – auszurichten und ihre Abläufe so zu gestalten, dass sie dessen Geschäftsziele
bestmöglich unterstützen kann. ITIL fordert also den Wandel von der IT als Techie-Insel zur
IT-Abteilung als hausinterner oder auch externer Dienstleister. Dazu definiert der Kern von ITIL
elf Disziplinen im Service-Support, Service-Delivery und Security-Management, ergänzt um
angrenzende Managementbereiche (Bild 1). Alle benötigten Informationen zu IT-Infrastruktur und
-Services hält laut ITIL eine umfassende CMDB (Configuration Management Database) vor, zentrale
Anlaufstelle für den Kunden (Single Point of Contact, SPoC) und damit Dreh- und Angelpunkt des ITSM
ist der Service-Desk. Als britischer Standard BS 15.000 und als ISO 20.000 hat ITIL inzwischen
Eingang in international anerkannte Standards gefunden.
ITIL-Projekte stoßen laut Branchenkennern immer wieder auf Vorbehalte bei den IT-Abteilungen.
Denn erstens bedeutet der geforderte Wandel der Unternehmenskultur eine Abkehr von eingeschliffenen
und vertrauten Arbeitsabläufen ("Das haben wir schon immer so gemacht!"), zweitens klingt "
Prozessoptimierung" für viele Ohren – und das mitunter durchaus zurecht – nach Rationalisierung und
Entlassungen. Dennoch wird wohl an standardisierten und möglichst hochgradig automatisierten
Prozessen im IT-Bereich schon bald kein Weg mehr vorbeiführen: "Die Zeiten sind reif für eine
Massenmigration zu einem neuen Service-Desk-Prozess- und -Tool-Modell", betont zum Beispiel
Forrester-Analyst Chip Gliedman. Er sieht spätestens das Jahr 2008 als Zeitfenster, in dem das
IT-Service-Management gegenüber anderen technischen Fortschritten aufholt und "bestehende Prozesse
und Techniken verfeinert und erweitert".
So nimmt es nicht Wunder, dass sich das ITIL-konforme ITSM als Feld erweist, das Anbieter von
Management-Tools unterschiedlichster Couleur geradezu magisch anzieht. Hier umfasst das Spektrum
zunächst die großen IT-Infrastukturanbieter BMC, CA, Hewlett-Packard und IBM – wobei aber IBM laut
Gartner gar keine komplette Service-Desk-Lösung bietet und deshalb im "Magic Quadrant for the IT
Service Desk" vom April 2006 keine Berücksichtigung findet (Bild 2). Hinzu gesellen sich Hersteller
von Helpdesk-Lösungen wie Touchpaper und Frontrange, die ihre Trouble-Ticket-Systeme konsequent
immer stärker in Richtung eines ITIL-konformen Service-Desks aufbohren. Aber auch Vertreter des
Client- und Servermanagements, allen voran Altiris mit umfassendem Fokus auf Service-Desk- und
Security-Funktionalität, positionieren sich als ITSM-Player. So hat zum Beispiel auch Symantecs
Servermanagementfraktion ITIL für sich entdeckt.
ITIL-zertifizierbar sind nur Einzelpersonen, BS-15.000- und ISO-20.000-zertifizierbar wiederum nur Anwenderunternehmen (oder bestimmte Teilbereiche oder Einzelprozesse von diesen). Um Konformität mit den ITIL-Prozessen belegen zu können, greifen die Lösungsanbieter deshalb häufig auf zusätzliche Prüfsiegel zurück. Am bekanntesten dürfte das "Pink-Verify"-Zertifikat des kanadischen Unternehmens Pink Elephant sein. Der Wert solcher Prüfsiegel ist jedoch in der Branche umstritten, da sie lediglich die formale Einhaltung von ITIL-Vorgaben, nicht jedoch die Qualität der ITIL-Umsetzung belegen können. Ein solches Prüfsiegel kann also den Erfolg eines ITIL-Projekts nicht garantieren.
Große Häuser wie IBM und HP betonen jenseits ihrer Lösungen gerne ihr umfangreiches Spektrum ITIL-bezogener Dienste. Diese reichen von ITIL-Beratungen und -Schulungen bis zu Prozessevaluierung und -modellierung und anderen Consulting-Services. HP zum Beispiel hat ein eigenes ITSM-Referenzmodell erarbeitet, dessen Umfang über ITIL hinausreicht. Gerne argumentieren Anbieter auch mit der Formulierung, ITIL oder zumindest einen gewissen Teilbereich davon "schlüsselfertig" - neudeutsch: "out of the box" - liefern zu können. ITIL-Consultants warnen einhellig davor, diesen Versprechungen allzu viel Glauben zu schenken: Dies hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen; denn angesichts des ITIL’schen Prozessfokus sei die Frage der Tool-Auswahl zwar wichtig, aber nachgelagert. Auch David Coyle, Research Director IT Operations Management bei Gartner und Co-Autor des Magic Quadrants, lobt zwar das Bemühen der Anbieter, ITSM-Prozesse in ihren Lösungen abzubilden, warnt aber vor einer allzu Tool-orientierten Herangehensweise (siehe Kasten "Gartner über ITIL-konforme Tools"). Die Anbieter von Helpdesk-Tools, so Coyle, seien vielmehr gut beraten, angesichts des ITIL-Hypes den Ausbau der Kernfunktionen ihrer Lösungen nicht zu vernachlässigen.
Auch unter den Herstellern herrscht keine Einigkeit, wie praxistauglich das Konzept "ITIL out of the box" tatsächlich ist. "So ein Anspruch ist absolut sinnvoll", erklärt Gerhard Haberstroh, Marketing Manager Software Deutschland bei HP, schränkt aber ein: "Allerdings kann er nur realisiert werden, wenn viel Erfahrung aus ITIL-Projektarbeit mit einfließt. HP hat eine Service-Desk-Express-Lösung entwickelt, in die Best Practices für fünf ITIL-Prozesse bereits mit eingearbeitet sind. Das führt zu einer wesentlich schnelleren Einführung von ITIL Prozessen." HP arbeite seit 1995 mit ITIL-Implementierungen und habe so die notwendige Erfahrung, um "ITIL out of the box" überhaupt anbieten zu können.
Deutlich skeptischer steht Dietmar Werner, Business Technologist bei CA, dem Anspruch einer "schlüsselfertigen" ITIL-Lösung gegenüber: "Es besteht eine gewisse Tendenz, ITSM als ein Tool-Thema zu betrachten und von Features in Tools abhängig zu machen. Die Einführung von ITIL im Service-Management wird aber vom Grundgedanken getragen, dass die Unternehmensorganisation mit ihren Prozessen und Mitarbeitern sowie die Adaption an die Unternehmenskultur und an individuelle Erfordernisse im Mittelpunkt stehen. ITIL kann deswegen nicht durch Software-Tools ‚geliefert‘ werden - erst recht nicht ‚out of the box‘." Doch natürlich betont auch der CA-Mann, es sei wünschenswert, "die Ideen und die Vorgehensweise von ITIL durch Tools möglichst optimal zu unterstützen" und so den Anwendern "den Nutzern nahezulegen". Schließlich vertreibt auch CA ITIL-konforme ITSM-Lösungen samt zugehöriger Beratungs- und Integrationsleistungen. Laut Werner bildet CA ITIL im Service-Support vollständig ab. "Schwerpunkt für künftige Entwicklungen sind Bereiche, die bisher noch nicht ausreichend durch Tools unterstützt wurden", so Werner. "Im Service-Support ist dies vor allem das Configuration-Management. Für Service-Delivery entwickelt CA Lösungen, die den Lebenszyklus der Serviceerbringung optimal unterstützen."
HP wiederum ist im ITSM-Markt zurzeit gleich doppelt vertreten: erstens durch die hauseigene HP-Openview-Lösungsfamilie, zweitens durch die Übernahme des Asset- und Service-Managementanbieters Peregrine im Herbst letzten Jahres. Bei der Übernahme kündigte HP an, Peregrine in den Openview-Geschäftsbereich integrieren zu wollen. Durch die Übernahme würden bei Openview "die Funktionen für das Asset- und Service-Management weiter ausgebaut." Mittelfristig ist hier also mit einer vereinheitlichten Lösung zu rechnen.
Auch Big Blue schläft nicht: "IBM hat im Mai 2005 ihre ersten konkreten Lösungen vorgestellt, die eine automatisierte, und damit schnellere IT-Prozessintegration ermöglichen", so Dagmar Krause-Groß, Tivoli Marketing Manager Central Region bei IBM Deutschland. Hierzu zählt sie Tivoli Unified Process. Die Lösung soll Unternehmen bei der Integration von IT-Prozessen durch so genannte "Tool Mentors" unterstützen, die ITIL-konforme Vorgaben anzeigen. "Zudem", so Krause-Groß, "hat IBM die Funktionalitäten des IBM Tivoli Provisioning Managers und des IBM Tivoli Configuration Managers in Richtung ITSM erweitert." Ende Juni bringt der Softwareriese zudem die Tivoli CCMDB (Change Configuration Management Database) auf den Markt. Dies ist IBMs Enterprise-Variante einer CMDB, die als virtueller Daten-Pool alle Änderungen an einer IT-Landschaft abbildet.
Ebenfalls gleich zweimal ist BMC im ITSM-Markt präsent: Remedy Help Desk zielt auf den Service-Desk in Großunternehmen, während Service Desk Express - die vormalige Magic-Produktfamilie - auf Mittelständler zielt. Denn ITIL hat bisher oft bei Großunternehmen Anklang gefunden, stößt aber heute auch bei kleineren Unternehmen auf Interesse. Allerdings haben diese andere Bedürfnisse bei ITIL-Projekten (siehe Kasten "ITIL im kleineren Maßstab"). Forrester unterscheidet deshalb sinnvollerweise zwischen Service-Desk-Lösungen für Groß- und für Kleinunternehmen. Im Large-Enterprise-Segment sieht Forrester-Analyst Gliedman BMC Remedy vorne, gefolgt von CA, den beiden HP-Lösungen und Axios Systems. Für kleinere Unternehmen seien BMC/Magic neben Altiris, Unipress und Frontrange gut positioniert, gefolgt von Touchpaper. Client-Managementspezialist Landesk hat mit dem Process Manager 2.0 jüngst ein automatisiertes Change-Management vorgestellt. Die Workflow-Engine ist offen für Interaktionen mit Fremdsystemen. Mercury Interactive wiederum hat sein ITSM-Portfolio kürzlich per Zukauf von Vertical Solutions und Tefensoft gestärkt. Zu den genannten Anbietern gesellen sich hier zu Lande rege ITSM-Spezialisten wie Materna, IET Solutions und Realtech. Das Dortmunder Beratungshaus Materna verfügte bereits 2005 über ein ITIL-Framework, das den gesamten ITIL-Service-Support sowie die Service-Delivery-Disziplin SLM (Service-Level-Management) umfasst. Ähnlich - also mit deutlichem Service-Support-Fokus - ist IET aufgestellt. Eine Stärke von IET ist die Aggregation von Asset-Informationen zur CMDB-Erstellung.
Realtech wiederum baut seine Systemmanagement-Tools zügig ITIL-konform um und kann dies effektiv mit seinem SAP-Know-how verknüpfen.
Glaubt man den Branchenkennern, so haben die IT-Abteilungen mehr Prozessdenken dringend nötig.
Die Anbieter von ITSM-Lösungen haben sich unter der Fahne von ITIL auf diese Marktlücke gestürzt.
Die Lösungen sind aber noch stark im Wandel, die ITIL-Unterstützung unterschiedlich weit gediehen.
Es wird deshalb sicher häufig nützlich sein, externe ITIL-Consultants für die Evaluierung der
Prozessreife, die Prozesskonzeption und die Projektbegleitung zu Rate zu ziehen. Daran anschließen
wird sich, geht es nach dem Willen der Hersteller, die Einführung eines neuen Service-Desk-Tools –
hier ist die Auswahl angesichts des dynamischen Markts zurzeit aber denkbar schwierig.