Applikationsbeschleunigung, Teil 1

Das große Fressen

15. September 2006, 0:05 Uhr | Dr. Wilhelm Greiner

Der Markt der Applikationsbeschleunigung ist im Umbruch: Erstens gewinnt eine Führungsgruppe stärker an Konturen - häufig durch das Schlucken kleinerer Anbieter. So haben Citrix, Expand und Packeteer jüngst durch Übernahmen ihre Position gegenüber Cisco, F5, Juniper, Radware und Co. gefestigt. Zweitens machen Multi-funktionsgeräte - im RZ unter dem Namen "Application Frontend", in Filialen als "Branch Office Box" oder "Branch in a Box" - immer öfter dedizierte Einzellösungen überflüssig.

Eigentlich ist die Anwendungsbeschleunigung nur eine kleine, hoch spezialisierte Nische. Dennoch
tobt hier seit über einem Jahr ein heftiger Kampf um die beste Marktposition – und immer öfter sind
durch Übernahmen bekannte Namen wie Cisco, Citrix und Juniper mit von der Konsolidierungspartie.
Zum Beispiel kündigte Traffic-Managementgröße Packeteer im Mai die Übernahme des kleinen Anbieters
Tacit an, Konkurrent Expand Networks nur Tage später die Akquisition des Wettbewerbers Disksites.
Im August schluckte SBC-Markführer (Server-based Computing) Citrix den WAN-Spezialisten Orbital
Data und gab unmittelbar nach vollendeter Übernahme die gemeinsame Entwicklung einer Appliance mit
Microsoft bekannt. Worum geht es bei dieser anhaltenden Übernahmeschlacht?

Die IT-Architektur in größeren Unternehmen sieht immer häufiger vor, dass Anwender in
Zweigstellen wie auch mobile Mitarbeiter auf Ressourcen und Informationen zugreifen, die zentral im
Rechenzentrum (neudeutsch: Data Center) vorliegen. Das Problem: Geschäftsanwendungen wie auch
Dateiübertragungs- und Druckdienste sind für das LAN und eben nicht für Weitverkehrsnetze
konzipiert. So treten allerhand Probleme auf: lange Wartezeiten durch geschwätzige (chatty)
Anwendungsprotokolle, Verzögerungen (Delays) und Delay-Varianzen (Jitter) durch die physischen
Bedingungen im WAN ebenso wie Versionskonflikte und hoher Transferbedarf durch lokales Arbeiten in
Kombination mit zunehmender Ressourcenbündelung im RZ. Diese Problemfülle hat den florierenden
Nischenmarkt der WAN- beziehungsweise Anwendungsbeschleunigung ins Leben gerufen.

Ablösung punktueller Ansätze

Frühe Beschleunigungslösungen bekämpften Einzelprobleme: Kompression als Mittel gegen hohe
Datenvolumina, Load Balancing zum Lastausgleich in (Web-)Serverfarmen, Traffic Shaping zur
Priorisierung wichtigen Anwendungsverkehrs, Caching im Rahmen von CDNs (Content Delivery Networks)
zur Replikation der zentralen Datenbestände etc. Doch längst haben die Hersteller die Vorteile von
Multifunktionsgeräten erkannt. Vorreiter waren auf Data-Center-Seite F5 Networks, im WAN Anbieter
wie Peribit (gehört heute zu Juniper), Expand oder auch Riverbed.

Diese Multitalente treten wie IT-üblich unter einer üppigen Fülle englischer Kürzel auf: Die
Analysten von Gartner nennen den Gerätetyp ADC (Application Delivery Controller). Die RZ-seitigen
Appliances und Application-Switches firmieren meist als AFE (Application Frontend), die Boxen an
den beiden Enden der WAN-Strecke als WOC (WAN Optimization Controller) oder WAFS (Wide-Area File
Services), je nachdem, ob der Fokus auf der Optimierung der WAN-Leitung oder der einzelnen
Applikation liegt. Appliances, die in der Filiale eine Vielzahl dort benötigter Funktionen geammelt
abdecken, nennt Gartner-Analyst Joe Skorupa BOB (Branch Office Box), Burton-Group-Marktforscher
Daniel Golding spricht von BiaB (Branch in a Box).

Unterteilen lassen sich die Geräte nicht nur nach dem Einsatzort, sondern auch nach der
Arbeitsweise: Symmetrische Architekturen erfordern jeweils ein Gerät auf beiden Seiten der
Verbindung (WOC, WAFS), asymmetrische siedeln die Optimierungsinstanz im RZ an (AFE) und erfordern
auf der Gegenseite lediglich einen aktuellen Browser (siehe "Und ewig lockt das World Wide LAN",
LANline 03/2006, Seite 80ff). Weitere Kriterien sind neben der Funktionsfülle und -tiefe der Umfang
der Security-Features und die Frage, ob die Optimierung für das Netz und die Anwendungen
transparent erfolgt. Das Unterscheidungskriterium Spezial- versus Multifunktionsgerät hingegen
verliert rapide an Bedeutung: Die "Alleskönner" sind auf dem Vormarsch. Denn der Administrator
möchte natürlich die gesamte Palette an Mechanismen nutzen, die sich für sein Anwendungsszenario
eignen – ohne dabei aber pro Optimierungsfunktion ein separates Gerät beschaffen, verwalten und
auswerten zu müssen. "Diese Deployments erreichen den Mainstream," so Joe Skorupa, Research
Director bei Gartner, "und die Unternehmen brauchen Lösungen, die die Behebung von Problemen mit
der Anwendungsleistung weniger komplex machen." Die aktuelle ADC-Generation verspricht hier nicht
nur Einsparungen im WAN-Budget, sondern auch beim Administrationsaufwand.

Namhafte Player mischen mit

Diese Entwicklung hat dazu beigetragen, die großen Player der Branche stärker zu involvieren:
Nicht nur winken lukrative Großkundenprojekte mit der Aussicht auf intensive Kundenbindung; der
Konsolidierungstrend spielt zudem jenen Anbietern in die Hände, die bereits Erfahrung damit haben,
Spezialisten-Know-how auf ihre Plattformen zu hieven. So erklärt sich der Kaufrausch der
Branchengrößen: Akquisitionen wie auch Eigenentwicklungen zielen darauf ab, ein durchgängiges
(End-to-end-, E2E-) Lösungsszenario zu bieten, das vom AFE über WOC/WAFS bis hin zum
Branch-Office-Gerät die gesamte Optimierungskette abdeckt. Hier möchte jeder unter den Top fünf
sein, die künftig für solche Projekte auf die Shortlist kommen.

Schon 2004 ergänzte Branchenprimus Cisco sein Application-Switching- und
Content-Delivery-Portfolio per Zukauf des WAN-Optimierers Actona, 2005 gefolgt vom AFE-Hersteller
Fineground. Ciscos Vielfalt kann ADC-Anspüche umfassend abdecken, bis hin zu den
ISR-Access-Routern, die sich per Modul-Slot als BOB-Basis eignen. F5, laut Gartner AFE-Marktführer,
stieg 2005 durch die Akquisition von Swan Labs in den WOC-Markt ein und erweitert nun stetig seine
modulare Plattform Big-IP. Bald sollen erste Swan-Labs-Features als Big-IP-Modul verfügbar werden.
Routing-Größe Juniper übernahm mit Peribit und Redline je einen WOC- und AFE-Anbieter. Als
Router-Hersteller verfügt Juniper damit über alle Komponenten für BOB/BiaB – ohne aber bisher eine
entsprechende Lösung angekündigt zu haben. Auch Citrix stieg 2005 durch die Übernahme von Netscaler
in den AFE-Markt ein, hatte aber zunächst kein WOC-Pendant im Angebot.

Diese beiden Trends – E2E-Lösungen und die Konzentration von Filialfunktionen per BOB/BiaB –
erkären auch die jüngsten Übernahmen: WOC-Marktführer Packeteer übernahm den WAFS-Spezialisten
Tacit, der noch dazu kurz vorher eine BOB angekündigt hatte (und der zudem über einen
Software-Client verfügt, derzeit noch ungewöhnlich, aber sicher bald Standard). WOC-Konkurrent
Expand zog nach und schluckte mit Disksites ebenfalls einen WAFS-Anbieter. Citrix schließlich
unternahm mit der Orbital-Data-Übernahme den erwarteten Sprung in das WOC-Segment (auch hier
übrigens inklusive Software-Client). Die Orbital-Data-Geräte heißen nun Citrix Wanscaler.

Am Folgetag verkündete der langjährige Microsoft-Partner eine Kooperation mit den Redmondern zur
gemeinsamen BOB-Entwicklung. Dies ist ein schlauer Schachzug: Gartners BOB-Konzept sieht die
Bündelung von WOC- und WAFS-Funktionen mit Services wie Datei- und Druckdiensten vor. Die
Citrix-/Microsoft-Box soll hier Windows- und ISA-Serverfunktionen um Wanscaler-Features ergänzen.
Der Wettlauf um die beste und vollständigste Branch-Office-Appliance ist also in vollem Gang.

Weitere Anbieter

Die ADC-Anbieterschaft beschränkt sich aber durchaus nicht auf die Gruppe der eifrigen
Aufkäufer. Fast schon eine Sonderrolle nimmt der etablierte Application-Switch-Anbieter Radware
allein dadurch ein, dass er seine Plattform – aktuell in Version AS5 – als Basis eines modularen
AFE- und WOC-Portfolios einschließlich umfassender Security-Funktionalität nutzt – und dies alles
in Eigenentwicklung. Daneben umfasst der Markt weitere bekannte Namen wie Nortel und Foundry:
Nortel hat kürzlich mit BCS 3000 ebenfalls eine WOC-/WAFS-Lösung mit eingebettetem Microsoft-Server
vorgestellt, Foundry hingegen konzentriert sich nach wie vor auf klassische
Application-Switches.

Auch einige Security-Anbieter engagieren sich verstärkt im ADC-Segment. So hat Blue Coat,
traditionell in beiden Märkten zu Hause, jüngst mit Mach5 eine ADC-Architektur vorgestellt, die
über Benutzerrollen die Kopplung der Beschleunigung an Geschäftsprozesse erlauben soll. Der
Innsbrucker Sicherheitsspezialist Phion wiederum erweiterte seine Security-Appliance Netfence um
Beschleunigungsfunktionen und tritt nun ebenfalls als BOB-Anbieter auf. Hinzu gesellen sich die
Carrier-orientierte Allot, Array Networks sowie diverse Start-ups wie Certeon, Silver Peak,
Stampede, Streamcore, Xroads, die britische Zeus oder Ipoque aus Leipzig.

Neben Geräten umfasst der Markt auch Services spezialisierter Anbieter: Bekannt ist vor allem
Marktführer Akamai, der sein CDN längst zum Application-Acceleration-Service ausgebaut hat. Auch
Akamai-Konkurrent Netli ist heute in Europa und auch in Deutschland aktiv. Verbreitung finden zudem
Angebote, bei denen ein Unternehmen die Beschleuniger nicht selbst betreibt, sondern als
Managed-Service vom Provider bezieht. So bietet zum Beispiel BT seit kurzem einen Application
Optimization Service (AOS) auf der Basis der Technik von Ipanema. Der Carrier-orientierte
Traffic-Managementanbieter Ipanema wiederum hat kürzlich eine Erweiterung seiner Lösung um
TCP-Beschleunigung bekanntgegeben. Dies soll auf Seiten der Filiale keine Appliance erfordern.

In der nächsten Ausgabe der LANline wird sich Teil 2 dieses Beitrags näher mit den einzelnen
Produkten und Lösungen befassen.


Lesen Sie mehr zum Thema


Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!

Weitere Artikel zu Lampertz GmbH & Co. KG

Matchmaker+