Die Schlagzeilen der vergangenen Jahre waren sehr optimistisch, als das Thema Industrie-Ethernet auf die Tagesordnung kam: "Ein Ruck geht durch die Branche", "Ethernet erobert den Industriebereich", "Offene Netzwerke" oder gar "Synergien zu bestehenden IT-Welten und fast unerschöpfliche Anwendungsmöglichkeiten eröffnen sich dem Anwender". Was ist daraus geworden? Haben sich die hohen Erwartungen erfüllt oder war alles nur der berühmte Sturm im Wasserglas?
Um schon einen Teil des Fazits dieses Artikels vorwegzunehmen: Ganz so schnell, wie einmal
prognostiziert, verläuft die Entwicklung vom Feldbus zum Ethernet wohl doch nicht. Aber es tut sich
etwas. Man muss sich nur die Mühe machen, etwas genauer hinzusehen. Die Übertragung der Erfahrungen
aus dem IT-Bereich auf den Industrie- und Automatisierungssektor ist zwar grundsätzlich richtig,
bedarf aber eines tieferen Verständnisses der Prozesse und Anforderungen – und zwar weit hinter den
Schlagworten. Es lohnt sich also, mehr Licht in das Dunkel zu bringen, das Verständnis zu fördern
und damit allen Beteiligten – dem Anwender, dem Entscheider, aber auch den Anbietern von
Industrie-Ethernet-Infrastrukturprodukten größere Erfolgsaussichten zu eröffnen.
Die Grundidee von Industrie-Ethernet ist so einfach wie genial zugleich: Nutze Ethernet auch als
Basis für sämtliche Kommunikationsprozesse in Maschinen, Anlagen und kompletten Fertigungs- und
Automatisierungslinien. Mit dem offenen Ethernet (nach IEEE 802.3) – gewissermaßen einer
einheitlichen Datenautobahn mit standardisierten Zubringern und Ausfahrten – lassen sich
Netzinfrastrukturen einfacher, schneller, leistungsfähiger, aber auch preiswerter aufbauen und
betreiben.
Zur Realisierung dieser Idee müssen jedoch insbesondere die Interfaces bis hinunter zur
verwendeten Hardware, also auch Kabel und Verbinder beschrieben und definiert werden, damit der
Anwender die Vorteile dieser Technik auch nutzen kann. Fachleute aus Hard- und Software griffen das
Thema auf. Internationale Standardisierungsgremien begannen mit der Arbeit – jeder von seiner
Startposition aus. Die IT-Fachleute haben vielleicht den Vorteil, dass sie eine ähnliche
Entwicklung schon einmal durchlaufen haben. Sie können neben der Vision einer einheitlichen
Kommunikationsinfrastruktur auch auf die Erfahrung der Machbarkeit und des Erfolgs
zurückgreifen.
Token Ring, MIC-Typ1-Stecker und Trennung von Daten und Telefon sind heute kein Thema mehr. Eine
einheitliche Infrastruktur für alle Dienste ist "state of the art". Die strukturierte Verkabelung
kennt Übertragungsklassen, und der Anwender kann sich die für seine Anwendungen und Erfordernisse
richtige heraussuchen. Damit ist eine eindeutige Zuordnung von Diensten zu Übertragungsklassen der
strukturierten Verkabelung möglich. Die Autobahn steht. Um die Zubringer und Ausfahrten braucht er
sich keine großen Gedanken zu machen. Verbindungstechnik, Stecker und Kabel sind ebenfalls so
geordnet (Kategorien) und standardisiert, dass alles zueinander passt. Das Problem der
Interoperabilität ist also zumindest prinzipiell gelöst.
Die offene Frage lautet also noch: Wie lange soll die Autobahn halten? Um zukunftssicher zu
sein, entscheidet sich der heutige Nutzer bekanntlich oft schon für Übertragungsklassen, die auch
künftige Anwendungen wie zum Beispiel 10GBase-T (10 GbE über Kupfer) erlauben. Damit macht er
gleichzeitig einen großen Schritt in Richtung Investitionssicherheit.
Ganz anders läuft das Thema in der Industrieverkabelung ab. Zwar ist auch hier eine rasante
Entwicklung in Technik, Funktionalität und Produkten zu beobachten, es herrscht jedoch eine Art
Inselmentalität vor. Dies ist sogar nachvollziehbar. Steht nämlich ein Produktionsnetz, kann dies
richtig teuer werden. Das Anhalten etwa einer Stranggussanlage führt nicht einfach nur zum
Produktionsausfall für die Zeit der Fehlerbeseitigung, sondern wird erst danach richtig
problematisch. Die Anlage muss wieder neu angefahren werden, was im ungünstigsten Fall mehrere Tage
oder sogar Wochen dauern kann.
Mit diesem Szenario im Kopf haben die Fachleute vorgebaut und Protokolle und Topologien eigens
für ihre Anwendungen und Erfordernisse entwickelt. Das Ergebnis ist eine fast unüberschaubare Menge
von Steuerungs- und Feldbusprotokollen. Hinzu kommen entsprechende Komponenten und Produkte zur
Vernetzung. Nachteil an dieser Art des Denkens: Nichts passt richtig zueinander. Proprietäre oder
Insellösungen sind entstanden.
Nebenbei bemerkt: Eine ähnliche Situation lag auch bei Anwendern aus dem
Finanzdienstleistungssektor vor. Ein Netzausfall könnte schnell ähnliche Dimensionen annehmen wie
zuvor beschrieben und unter ungünstigen Umständen Millionen Euro Verlust verursachen, vom
Imageschaden und Vertrauensschwund bei Kunden und Partnern gar nicht zu reden. Dennoch hat der
Finanzsektor keine eigenen Netze neu erfunden. Er hat eben nur vehement darauf gedrängt,
ausreichend sichere Lösungen einzusetzen.
Die Standardisierung für die strukturierte Verkabelung (ISO/IEC JTC1 SC25, Cenelec und DKE) hat
sich sehr schnell auf die sich ändernden Bedürfnisse der Anwender eingestellt. So entstand speziell
für die Industrieverkabelung die ISO/IEC 24702. Ihre Inhalte sind wesentlich in die Überarbeitung
der EN 50173 eingeflossen. Die bis dato in einem Gesamtwerk zusammengefasste Norm ist aufgeteilt:
Für die Anwendungsfelder Büroverkabelung, Industrieverkabelung, Heimverkabelung und Rechenzentren
entstanden separate Arbeitsgruppen, die basierend auf der Idee einer einheitlichen Infrastruktur
die spezifischen Anforderungen näher untersucht und praktikable Lösungen erarbeitet haben. Die
überarbeitete Fassung der EN 50173 wird noch in diesem Jahr veröffentlicht.
Dies stellt einen Meilenstein der internationalen Normungsaktivitäten dar: nicht nur wegen der
Geschwindigkeit, mit der die Ergebnisse vorliegen, sondern auch wegen des konsequent verfolgten
Ansatzes der generischen Verkabelung. Die generische Verkabelung liefert eine offene, für alle
nutzbare Infrastruktur, und zwar unabhängig von den Diensten oder Protokollen, die zu übertragen
sind.
Die Fachleute aus dem Automatisierungsumfeld haben die Zeichen der Zeit natürlich auch erkannt.
Ethernet als Datenautobahn kam jedoch zunächst in den Bereichen zum Einsatz, wo die geringsten
Einführungsprobleme auftraten, also etwa zur Verbindung von Steuerungen (SPS) untereinander und zu
übergeordneten Einheiten – gewissermaßen als Backbone. Die Anwendung von Ethernet in den darunter
liegenden Ebenen der Automatisierungstechnik ist komplexer und bedarf zusätzlicher Voraussetzungen.
Dennoch arbeiteten die Experten auch an diesem Thema. Die führenden Anbieter von Feldbussystemen
mit den starken Nutzerorganisationen im Rücken haben ihre Lösungen auf Ethernet adaptiert.
Die Standardisierung für Feldbusse in der IEC SC65C hat sich ebenfalls dem Thema Infrastruktur
zugewandt. Anders formuliert: Wie sehen neben der Datenautobahn die Zubringer und Ausfahrten aus?
Am einfachsten wäre es gewesen, dabei auf die bestehenden Lösungen aus dem SC25 zurückzugreifen,
dies wollten oder konnten die Beteiligten allerdings nicht, zumindest nicht vollständig. Sich der
Historie vollständig zu entziehen, kam allerdings auch nicht Frage: Steckverbinder wie der Han 3A
oder auch M12 sind seit langer Zeit erfolgreich im Einsatz. Für die weit verbreiteten
Ethernet-Verbinder RJ45 oder LC hätte die Chance bestanden, sie im Sinne einheitlicher
Autobahnzubringer und -ausfahrten konsequent auch durch die Automatisierungsseite zu
standardisieren. Das letzte Wort ist an diesem Punkt wohl noch nicht gesprochen. Die Experten
rechnen mit der Verabschiedung und Veröffentlichung der IEC 61918 nicht vor Ende 2007.
Die Grundlagen sind gelegt. Auch wenn der ganz große Wurf – eine komplett durchgängige
Infrastruktur für Office und Industrie – noch nicht gelungen ist, überwiegen die Gemeinsamkeiten.
Die Erkenntnis wächst, dass man nur durch eine ganzheitliche Betrachtung der Materie zu tragfähigen
und zukunftssicheren Lösungen kommt. Und der Druck, dies zu tun, nimmt ebenfalls zu. Die Suche nach
immer neuen, besseren Lösungen und der stetige Wettbewerb, lassen keine andere Alternative.
Betrachtet man einige praktische Probleme näher, wird dies schnell deutlich: Eine Übertragung von
Versorgungsspannungen über das gleiche Netz, erhöhte Funktionsanforderungen etwa für
Sicherheitsaspekte oder Managementfunktionalität und damit verbunden erhöhte Bandbreiten,
Wireless-Lösungen oder die Einbindung neuer Techniken und Services – all dies sind Themen, die
sowohl der Office- als auch der Industriebereich gleichermaßen adressieren muss.
Als Beispiel kann die Versorgungsspannung dienen. Die IEEE hat mit Power over Ethernet (PoE nach
IEEE 802.3af) eine Lösung für die Fernspannungsversorgung von Geräten entwickelt. Sie kommt heute
bereits für VoIP (Telefonie über Ethernet) oder Sicherheitssysteme zum Einsatz. Intelligente
Sensoren, Kamerasysteme und kleinere Aktoren im Feld warten förmlich auf diese Möglichkeit der
Integration von Daten und Stromversorgung. Safety und Security sind Top-Themen im Industrie- und
Automatisierungsumfeld. Dort sucht man Konzepte und Lösungen, um bei einem Fehler eine Anlage nicht
nur in ein Nothalt zu fahren, sondern in eine definierte Stop-Position, um so den Neuanlauf
wesentlich schneller und effektiver zu realisieren. Dies ist kein Problem auf der Ethernet-Ebene,
die verfügbare Bandbreite könnte dennoch ein Thema werden.
Gefragt sind zudem eine einfache Ansteuerungen mobiler Stationen im Produktions- und
Logistikumfeld. Grundsätzliche Lösungen gibt es bereits (IEEE 802.11a/b/g). Um den erhöhten
Anforderungen nach stetiger Verfügbarkeit gerecht zu werden, sind neue Generationen dieser Geräte
in Arbeit. Da dazu wieder wesentlich mehr Know-how von Seiten der Funktechniker einfließt, ist
davon auszugehen, dass sich die Kinderkrankheiten heilen lassen.