Video-Conferencing nimmt neuen Anlauf auf dem Massenmarkt

Unified Communications wird scharfsichtig

25. März 2010, 13:33 Uhr | Stefan Mutschler/pf

Auguren die video­gestützte Kommunikation an der Schwelle zur Standardapplikation für alle. Was durch Low-cost-Anbieter wie Skype im privaten Sektor nun tatsächlich Realität zu werden scheint, bleibt in der professionellen Unternehmens­kommuni­kation bis dato eine Nischenanwendung für das Top-Management. Im Rahmen aktueller Unified-Communications-(UC-)Strategien gewinnt die Videokommunikation jedoch auch im Business neuen Schwung.

Während die Marktforscher im Bereich UC für das Jahr 2009 ein Wachstum von 22 Prozent erwarten (Gartner), sehen die Anbieter des aufstrebenden UC-Zweigs Videokommunikation ihrer Zukunft mit geradezu phantastischem Optimismus entgegen. Bob Hagerty beispielsweise, CEO von Polycom, prognostiziert im Markt für Videokommunikationslösungen 2010 ein Wachstum von 30 Prozent. Die positiven Erwartungen speisen sich aus einer Reihe von Trends, die der Polycom-Chef ausgemacht haben will. Diese betreffen beispielsweise die Sektoren Videoüberwachung, mobile Videokonferenzen per Handy sowie den Klassiker Conferencing im Unternehmenssektor, um Reisekosten zu sparen und die Umwelt zu schonen. Die mit Letzterem verbundenen Herausforderungen schiebt er den IT-Verantwortlichen in den Unternehmen zu: „CIOs müssen Möglichkeiten finden, mit denen sie den extrem schwankenden Bandbreitenanforderungen gerecht werden können, indem sie entweder die eigenen Netzwerke ausbauen oder über die Grenzen des Unternehmensnetzwerks hinausgehen, um in Spitzenzeiten zusätzliche Kapazitäten in der Cloud nutzen“, so Hagerty. Was das mobile Video-Conferencing angeht, so sind die wichtigsten Voraussetzungen dafür zumindest geschaffen: Fast jedes Smartphone unterstützt heute schnelle Internet-Datenraten, (UMTS, HSDPA, HSDPA – ab 2010 sollen auch die ersten LTE-Handys auf den Markt kommen) und die Preise für deren Nutzung bei den Providern sind nach einer Untersuchung des Bundesverbands Digitale Wirtschaft (BVDW) e.V. im Jahr 2009 um 24 Prozent gefallen. Monats-Flatrates gibt es demnach heute schon ab 15 Euro, Tages-Flatrates ab zwei Euro.

H.323 und SIP (Session Initiation Protocol) haben in den letzten Jahren meist im konstruktiven Wettstreit viel dazu beigetragen, das Thema Video-Conferencing (VC) voranzubringen. Raumsysteme mit einem realistischen Präsenzerlebnis sind das Ergebnis am oberen Ende der Skala. Player in diesem Segment sind traditionell Polycom (www.polycom.de) und Cisco/Tandberg (www.tandberg.de), aber auch kleinere wie der kürzlich von Logitech übernommene Hersteller Lifesize (www.lifesize.com). 2010 wird sich Huawei (www.huawei.com) hinzugesellen, der im chinesischen Markt mit einem umfangreichen Programm an VC-Lösungen bereits aktiv ist und für dieses Jahr ein breit angelegtes, globales Roll-out plant.

Frische Technik für lebendiges ­Tele-Conferencing

Doch gleichgültig wie hochwertig die Ausstattung – zwei Dinge trüben bis heute das lebendige Konferieren: die hohe Empfindlichkeit gegenüber Schwankungen in der Bandbreite und die deutlich wahrnehmbaren Verzögerungszeiten. In der klassischen VC-Welt sind Latenzen unter 500 ms nur mit hohem Aufwand zu erzielen. Und selbst mit den schnellsten En- und Decoding-Prozessoren bleiben die Verzögerungen mit den üblichen, MCU-basierenden (Multipoint Control Unit) Architekturen im Bereich um 250 bis 300 ms. Auch wenn die Großen im Markt dies als akzeptablen Wert verkaufen wollen – richtiges Live-Feeling mag da in stärker dialogorientierten Sitzungen nicht aufkommen.

Als kritisch erweist sich die geringe Toleranz gegenüber schwankenden Bandbreiten. Steht die geforderte Bandbreite (bei Raumsystemen sind derzeit 2 bis 6 MBit/s pro Großformatmonitor üblich) nicht absolut stabil zur Verfügung, verliert die Verbindung schnell Pakete (Packet Loss). Paketverluste äußern sich im günstigsten Fall durch ruckelige Bilder – steigt der Anteil verlorener Pakete nur über ein Prozent, bricht oft die gesamte Verbindung zusammen. Gerade über öffentliche Internet-Verbindungen ist damit kaum ein hochwertiges Tele-Conferencing möglich. Wenn keine stabilen und entsprechend breiten Übertragungskanäle dauerhaft verfügbar sind, empfehlen sogar die Anbieter hochwertiger Telepresence-Systeme eher das Ausweichen auf einfachere Lösungen. Nicht nur Hagerty schiebt die alleinige Verantwortung für dieses Problem der Nutzerseite zu. Hintergrund ist wohl der mit recht enttäuschendem Ergebnis angegangene Versuch einiger Hersteller (darunter neben Tandberg auch Polycom), des Problems mit „intelligenten“ Packet-Loss-Recovery-Techniken Herr zu werden. Die damit erzielbaren Verbesserungen dehnen die Toleranzgrenze lediglich auf maximale Packet-Loss-Werte um fünf Prozent aus.

Hauptproblem sind die Video-Codecs, die innerhalb der H.323-Standardfamilie zunächst in Form des H.261-, später des H.263-Substandards definiert wurden. Auch der seit 2003 ratifizierte Nachfolger H.264 (ITU-Bezeichnung; bei ISO/IEC MPEG läuft der Standard unter der Bezeichnung MPEG-4/AVC – Advanced Video Coding und ist der zehnte Teil des MPEG-4-Standards) brachte in Sachen Bandbreitentoleranz zunächst nur marginale Verbesserungen. Seine gegenüber H.263 um den Faktor 3 verbesserte Code-Effizienz ist allerdings Voraussetzung für die Übertragung hochauflösender Video-Streams wie etwa HDTV oder auch Blu-ray. Der Durchbruch in puncto Bandbreitentoleranz kam erst Ende 2007 mit der Verabschiedung des Anhangs G zum H.264-Standard. In dieser Form ist der Standard besser als H.264 SVC (Scalable Video Codec) bekannt. Anstatt – wie mit H.264 AVC – das Videobild in einem einzigen Datenstrom zu übertragen, wird es in horizontal geschichteten Layern übermittelt. Dabei kommen immer so viele Layer zur Übermittlung, wie sich ohne Paketverlust übertragen lassen. Auflösung, Bildqualität und Bildwiederholrate werden auf diese Weise skalierbar – daher das „scalable“ in der Namensgebung.

Das Ergebnis ist eine erstaunlich hohe Fehlertoleranz gegenüber Packet Loss. Selbst Raten in Größenordnungen von 20 Prozent führen nur zu kaum wahrnehmbaren Verschlechterungen der Bildqualität und auch Raten um 50 Prozent bedeuten nicht notwendig einen Verbindungsabbruch. Allerdings funktioniert die Sache nur, wenn alle Endpunkte die SVC-Technik unterstützen. Und hier liegt derzeit auch das Hauptproblem mit SVC in der Praxis: SVC ist bislang nur in den Produkten weniger Hersteller umgesetzt, und es arbeitet nicht mit den bestehenden VC-Standards zusammen. Deshalb ist für eine Einführung von SVC-Endpunkten in hybriden VC-Netzwerken die Verwendung von SVC-AVC-Gateways erforderlich. Alternativ lässt sich eine SVC-fähige MCU verwenden. Die beiden Verfahren zeigen jedoch spürbare Performance- und Qualitätsunterschiede. Die Verwendung von SVC-Gateways kann zu einem Qualitätsverlust bei der Anbindung von Standardendpunkten (non-SVC) führen. Da dies meist für den größten Teil der vorhandenen Endpunkte zutrifft, gilt diese Lösung derzeit als der falsche Ansatz. Hersteller wie Radvision (www.radvision.com) empfehlen den Einsatz von SVC-fähigen MCUs. Diese sollen die Bildqualität älterer Endpunkte nicht negativ beeinträchtigen. Neue SVC-fähige Endpunkte könnten sich problemlos einbinden lassen.

Brennpunkt
ist und bleibt die Latenzzeit

Bleibt als zweites Problem noch die hohe Latenzzeit – ein Ärgernis, das sich auch in bestausgestatteten Umgebungen mit optimalen Rahmenbedingungen nicht zufriedenstellend beseitigen lässt, da die Ursache in der VC-Architektur selbst liegt. Ausgerechnet die zentrale Komponente dieser Architektur, die MCU, erweist sich als hauptverantwortlich für dieses Problem. MCUs sind Sternverteiler für Gruppenkonferenzen. Sie sind immer dann notwendig, wenn mehr als zwei Teilnehmer an einer Konferenz teilnehmen wollen. Es handelt sich um Hard- und/oder Softwarelösungen, die eine oder mehrere Mehrpunktkonferenzen verwalten und steuern. Die MCU ist mit allen Teilnehmern verbunden, sie verwaltet und regelt die ein- und ausgehenden Video- und Audiodatenströme. Dazu gehört auch das Transcoding, also das wechselseitige Übersetzen aller an der Kommunikation beteiligten Codecs. Die dafür nötigen En- und Decoding-Prozesse verschlingen je Codec zum Teil erhebliche Rechenleistung. Die von den Herstellern dafür eingesetzten Prozessoren werden zwar immer schneller (die MCUs damit aufwändiger und teurer), jedoch bleiben die maßgeblich durch die MCU verursachten Verzögerungen nach wie vor deutlich spürbar. Die Wirtschaftlichkeit bildet die natürliche Grenze für den Ansatz, dem Transcoding immer schnellere Prozessoren zu spendieren.

Neue VC-Architektur für
preisgünstige Latenzvermeidung

Kein einziger der etablierten Anbieter zeigt derzeit Regungen, an der Basis des Problems, also der VC-Architektur als solcher, etwas ändern zu wollen. Verwunderlich ist dies nicht, erweist sich das Geschäft mit den MCUs doch als sehr einträglich, und jede eingesparte Millisekunde Verzögerungszeit lässt sich teuer verkaufen. Jetzt will ein Newcomer den Großen in die Suppe spucken: Vidyo (www.vidyo.com) ersetzt die MCU durch einen Video-Router, der selbst keinerlei En- und Decoding durchführt. Dies geschieht bei den Lösungen des Herstellers nur ein einziges Mal – direkt an den Endpunkten. Der Video-Router beobachtet lediglich die CPU-Auslastung der Zielsysteme sowie die dorthin zur Verfügung stehende Bandbreite. In Abhängigkeit dieser Werte berechnet er den bestmöglichen Datenfluss. Auf diese Weise sollen die Latenzen immer unter 200 ms bleiben, typisch seien 50 ms. „Dies ist aber nur einer der Vorteile, die unsere neue VC-Architektur mit sich bringt“, so Holger Gumbrecht, Country Manager DACH bei Vidyo im Gespräch mit LANline. „Durch den Wegfall der teuren MCUs können wir unsere Lösungen zu Preisen anbieten, die High-Definition-Video-Conferencing wirklich massenmarkttauglich machen.“ Als junges Unternehmen ohne Altlasten hat Vidyo sein Portfolio komplett um den H.264-SVC-Standard entwickelt. Europäische Vertriebskanäle sind derzeit im Aufbau – in Deutschland sollen zwei Distributoren ab 2010 die aktive Vermarktung starten.

Professionalisierung am Lowend – Flexibilisierung am Highend

Dass die etablierten VC-Anbieter mit ihren Entwicklungen offenbar große Teile des Marktpotenzials links liegen lassen, beweisen auch die Erfolge von Skype (www.skype.de). Wenngleich die bislang reinen Zweierkonferenzen in einer völlig anderen Liga spielen als echte VC-Systeme, spricht doch eine Durchdringung von 35 Prozent in Unternehmen eine deutliche Sprache. So viele Individuen sollen laut Skype in den Unternehmen regelmäßig über Skype kommunizieren, die Hälfte davon sogar im Rahmen des Business. Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als in den meisten Unternehmen Skype aus Sicherheitsgründen mindestens unerwünscht, nicht selten sogar per Unternehmens-Policy untersagt ist. Skype selbst hat inzwischen auf den Trend reagiert und Lösungen speziell für Unternehmen angekündigt beziehungsweise schon veröffentlicht. So soll es hier in Kürze einen UC-Client geben, der neben neuen Funktionen für Voice, Video und Präsenz unter anderem auch ein „Business Control Panel“ (BCP) bietet. „Dessen wichtigste Features für Unternehmen sind sicher zum einen die zentrale Zuweisung und Verwaltung von Skype-Guthaben und zum anderen die Möglichkeit, bestimmte sicherheitsrelevante Anpassungen vorzunehmen, etwa die Dateiübertragung via Skype zu deaktivieren“, erklärt Stefan Oberg, Vice President und General Manager, Skype for Business. Ein entsprechender SOCKS-5-Proxy, der diese Funktionen unterstützt, wurde bereits vorgestellt. Künftig will Skype seine Clients auch Multi-Party-fähig machen – bis zu fünf Teilnehmer sollen dann über Skype konferieren können.

Die zweite Initiative, die Skype für Unternehmen aufgelegt hat, ist das „Skype for SIP“-Betaprogramm. Unternehmen können damit auf vergleichsweise einfache Weise ihre SIP-basierenden TK- und UC-Systeme für Telefongespräche über Skype nutzen.

Skype for SIP

Der IT-Administrator muss lediglich das erwähnte Skype BCP registrieren und einrichten sowie für die Integration des SIP-basierenden Kommunikationssystems den Anweisungen für die Konfiguration von Skype for SIP folgen. Die Betaphase soll Ende des ersten Quartals 2010 abgeschlossen sein. Laut Skype ist bereits eine breite Auswahl an Telefonsystemen für den Einsatz mit Skype zertifiziert, darunter solche von Cisco und Shoretel sowie die freie Linux-Plattform Asterisk. Für klassische TDM-Anlagen (Time Division Multiplexing) will Skype für etwa 500 Dollar ein TDM-to-SIP-Gateway anbieten.

Trotz solcher Attacken vom Lowend der Videokommunikation bleiben die etablierten, großen Anbieter gelassen. Tandberg etwa (die Übernahme durch Cisco ist noch vom Segen der amerikanischen Kartellbehörden abhängig) will ähnlich wie Polycom eine deutlich steigende Nachfrage auch nach hochwertigen Konferenzsystemen verzeichnet haben. Einen Grund, dort groß auf Kostensenkungen zu setzen, sieht das Unternehmen deshalb nicht. Die aktuelle Strategie bei der kürzlich vorgestellten „T3 Custom Edition“ zielt vielmehr auf verbesserte Flexibilität.

Von der Führungsetage
in weitere Bereiche

Konkret will das Unternehmen das Thema Telepresence von den Führungsetagen auch auf andere Bereiche ausdehnen und dafür speziell angepasste Lösungen liefern. Im Fall von T3 adressiert Tandberg unter anderem Labore, Unterrichtsräume und Werkshallen. „Tandberg passt Telepresence-Lösungen individuell an die Gegebenheiten von Bildungseinrichtungen an. Von einem Kunden wurden wir beauftragt, den ersten virtuellen Show Room zur Präsentation von Kollektionen einzurichten. Dies wird die Modeindus­trie revolutionieren“, so Odd Sverre Østlie, Vizepräsident Telepresence and Ad­vanced Solutions bei Tandberg. „Aber dies ist nur der Anfang einer Entwicklung hin zu leicht zugänglicher, qualitativ hochwertiger visueller Kommunikation. Eine Entwicklung, die unser Leben in einer Art und Weise verbessern wird, die die meisten Menschen nicht für möglich gehalten hätten.“

Vor dem Sprung in den Mainstream

Vieles spricht dafür, dass professionelles Video-Conferencing endlich den Sprung in den Mainstream schafft: Preisattacken von Lowend-Anbietern, branchengerecht maßgeschneiderte Lösungen bei den Highend-Anbietern sowie neue Standards und Techniken gegen die letzten VC-Hürden. Im Unternehmensumfeld hat VC damit das Potenzial, sich zum dominierenden Baustein einer UC-Strategie zu entwickeln.


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