Unified Communications und Mobilintegration locken Anwender

VoIP zwischen Durchbruch und Einbruch

29. Juli 2009, 22:56 Uhr | Stefan Mutschler/pf

Die paketvermittelte Sprachkommunikation über das Internet-Protokoll (VoIP) hat mittlerweile bei vielen Unternehmen ihren festen Platz. Allerdings sind Roll-out und Reifeprozess noch alles andere als abgeschlossen: Unified Communications und Mobilfunk lauten die aktuellen Herausforderungen, während immer neue Qualitätsverbesserungen das VoIP-Verfahren für ein lebensechtes Präsenzerlebnis ohne Ortsbeschränkungen aufpolieren sollen.

Die Frage, was die Wirtschaftskrise für die moderne, IP-basierende Telekommunikationsindustrie
bedeutet, führt in diesem Jahr fast unweigerlich zur Zahl 20. Gleichgültig welches Segment des
weitgefächerten Markts – immer ist eine Schrumpfung in der Größenordnung von etwa 20 Prozent zu
beobachten. Die weltweiten Umsätze im Bereich der Unternehmenstelefonie insgesamt beispielsweise
gingen im ersten Quartal dieses Jahres um 21 Prozent zurück (auf 3 Milliarden Dollar). Auch die
Umsätze mit Telefonnebenstellen sowie die Zahl der verkauften Anschlüsse reduzierten sich jeweils
um 21 Prozent (auf 1,3 Milliarden Dollar beziehungsweise 10,3 Millionen Anschlüsse). Die Umsätze im
gesamten Telefonmarkt brachen sogar um 23 Prozent ein (auf 934 Millionen Dollar), bei den
Sprachapplikationen für Unternehmen waren es 19 Prozent (auf 721 Millionen Dollar). Selbst der "
Zukunftsmarkt" Unified Communications (UC) bekam einen Dämpfer – das erste Quartal 2009 war um 21
Prozent (nach Umsätzen) schlechter als das vierte Quartal 2008. Die genannten Zahlen stammen aus
dem kürzlich erschienenen "Enterprise Telephony Report" für das erste Quartal 2009 von
Dell´Oro.

Die Marktforscher liefern auch gleich eine plausible Erklärung für diesen Rückgang, dessen
Ausmaß weit größer ist, als die Wirtschaftskrise nahelegen würde: So seien derzeit fünf der acht
größten Anbieter aus der Branche mit signifikanten Restrukturierungsmaßnahmen beschäftigt. Dies
führe dazu, dass viele potenzielle Kunden die Lage erst einmal beobachten und ihre Investitionen
zurückhalten. Beispiele für Unternehmen, deren Business derzeit durch Umstrukturierungen
ausgebremst ist, sind etwa Siemens, Aastra und Avaya. Bei Siemens wird die ehemalige "Enterprise
Networks"-Sparte seit Mitte letzten Jahres von den Strategen des Finanzinvestors Gore Group
zurechtgestutzt – am von Siemens und Gore gegründeten Joint-Venture-Unternehmen, in dem auch der
frühere Netzwerkinfrastrukturlieferant Enterasys aufgegangen ist, halten Gore 51 und Siemens 49
Prozent. Aastra integriert seit Mitte Februar dieses Jahres die Telefonanlagensparte von Ericsson
und ist gleichzeitig immer noch schwer mit der Eingliederung der deutschen Detewe beschäftigt.
Avaya wiederum hat knapp fünf Jahre nach der Übernahme von Tenovis nach wie vor mit
Channel-Konflikten zu kämpfen. Ferner hat Avaya kürzlich angekündigt, die seit acht Jahren
bestehende Partnerschaft mit IBM weiter auszubauen. Beide Unternehmen wollen so das Thema UC aus
einer ganzheitlichen Perspektive aufrollen. Nortel versuchte sich im ersten Quartal noch mit
Umstrukturierungen zu retten – inzwischen steht das Traditionsunternehmen unter dem Schutz von "
Chapter Eleven" und vor einer weitreichenden Zerschlagung. Allerdings geht es auch den Unternehmen,
die ihre Kunden nicht durch undurchsichtige Restrukturierungen verunsichern, nicht besser.
Branchenprimus Cisco beispielsweise verkaufte im ersten Quartal 2009 32 Prozent weniger Anschlüsse
als im Quartal davor, bei Alcatel-Lucent waren es 27 Prozent. Bei NEC lief es besser – das
Unternehmen musste nur einen Rückgang um neun Prozent verkraften.

Obwohl sich durch die abwartende Haltung vieler Unternehmen ein Investitionsstau ergibt, glauben
die Analysten von Dell´Oro nicht an eine Entspannung der Lage noch in diesem Jahr. Ihre Statistik
zeigt eine klare Korrelation zwischen PoE-Ports (Power over Ethernet) und VoIP: Hintergrund sei die
sehr begrüßenswerte, weil weitsichtige Gepflogenheit der Anwender, ihre Datennetze vor Einführung
von VoIP entsprechend vorzubereiten. Dem Kauf einer IP-TK-Anlage gehe fast immer eine Erweiterung
der PoE-Ports voraus – ein wichtiger Indikator für die Umsetzung von VoIP-Projekten. Im ersten
Quartal 2009 gingen die Verkäufe von PoE-Ports jedoch um 25 Prozent zurück, woraus die
Dell´Oro-Analysten schließen, dass in nächster Zeit entsprechend geringe Anschaffungen im Bereich
VoIP ins Haus stehen. So erwartet Dell´Oro auch aufs gesamte Jahr 2009 gerechnet eine Schrumpfung
des Marktes – bei den Anschlüssen von Telefonanlagen nach Stückzahl etwa um 22 Prozent (auf 43,1
Millionen), nach Umsatz sogar um 25 Prozent (auf 5,4 Milliarden Dollar).

Virtualisierung gibt Hosting-Lösungen den Kick

TK-Funktionen als Dienstleistung zu beziehen, wurde in den letzten Jahren ein immer
attraktiverer Ansatz. Die mit VoIP verbundene Komplexität außer Haus zu geben und ein genau
definiertes Leistungspaket zu exakt kalkulierbaren Kosten zu bekommen, gewinnt zunehmend an Reiz.
Das Verwirrspiel bei den Herstellern hat zusätzlich dazu beigetragen, Anwender in die Arme eines
Dienstleisters zu treiben. Im Groben haben sich drei Modelle herausgebildet, auf welche Art und
Weise das Outsourcing geschehen kann: als Managed Service, als gehostete Lösung und als IP-Centrex.
Letztere Variante galt vielen Analysten als aussichtsreichste Variante für einen Massen-Service,
doch die Realität zeigt ein anderes Bild. IP-Centrex ist bis heute weit davon entfernt, als echte
Mainstream-Lösung etabliert zu sein.

"IP-Centrex hat als einfache und preiswerte Lösung durchaus seine Vorteile, so Dipl.-Ing. Jörg
Schwerdtner, Technical Manager Central and Eastern Europe bei Mitel. "Wir sehen diese aber primär
im Bereich von Büros und kleinen Unternehmen bis etwa 50 Nutzer. Für größere Organisationen ist
IP-Centrex nach unserer Auffassung zu sehr begrenzt in seinen Funktionen. Provider richten
IP-Centrex als ?großen Kuchen? ein, von dem sie für jeden Kunden ein Stück abschneiden. Dies
skaliert schlecht und führt zu ungewollten Nebeneffekten. Fährt der Provider beispielsweise ein
Update seiner TK-Software, sind automatisch alle Kunden auf dem entsprechenden Server betroffen."

Mitel selbst realisiere die meisten TK-Outsourcing-Projekte inzwischen über eine gehostete
Lösung. Moderne Virtualisierungstechniken hätten diesem Konzept zum großen Durchbruch verholfen:
Während hier früher für jeden Kunden eigene Server betrieben wurden, ließen sich diese Ressourcen
jetzt über einen virtuellen Pool erheblich effizienter nutzen. Anders als bei IP-Centrex behielte
aber jeder Nutzer seine eigene Instanz inklusive eigenem Betriebssystem und individuellen
Leistungsmerkmalen beziehungsweise Anwendungen. Bei Leistungsengpässen holten sich die Lösungen
automatisch zusätzliche Ressourcen aus dem Pool, der zunehmend als "Cloud" organisiert sei. Auf
diese Weise ließen sich sehr skalierbare und kosteneffiziente Individuallösungen anbieten. So
verwundert es nicht, dass Mitel neben Sun, HP, IBM und Microsoft auch den
Virtualisierungsspezialisten VMware auf seiner Liste strategischer Partner stehen hat.

Altes Streitthema: SIP versus H.323

Mitel hat auch beim ewigen VoIP-Streitthema SIP (Session Initiation Protocol) versus H.323 eine
markige Meinung: "SIP ist im Grunde ein Fluch", so Schwerdtner. "Es ist nicht für die Steuerung von
Echtzeitkommunikation gemacht und verfügt gerade einmal über mickrige 16 beziehungsweise 19
Leistungsmerkmale." Zum Vergleich: ISDN besitzt etwa 6.000 Leistungsmerkmale, typische TK-Anlagen
kommen in der Regel mit 300 bis 700 Funktionen. Damit spricht Mitel aus, was viele Hersteller trotz
öffentlichen SIP-"Gesangs" denken und auch praktizieren. Viele unterstützen SIP, darunter
Alcatel-Lucent, Avaya, Cisco, Microsoft, NEC, Nortel und auch Mitel, aber fast jeder hat neben
rudimentären Telefoniefunktionen auf SIP-Basis ein dickes Paket komfortabler Telefoniefunktionen,
die proprietär auf der Basis von H.323 beziehungsweise völlig proprietären Zusatzprotokollen
realisiert sind. Konsens besteht allerdings darin, SIP-Endgeräte an die Telefonanlagen anschließen
zu können – ein Thema, das vor allem im Zusammenhang mit mobilen Geräten wichtig ist. Mit reinen
SIP-Plattformen sind nur wenige Hersteller unterwegs, so etwa Microsoft mit dem "Live
Communications Server" und dem "Office Communications Server" oder Nortel mit dem "Multimedia
Communications Server".

Mobilität, Fixed Mobile Convergence (FMC) und UC

692,6 Milliarden Dollar nehmen Mobilfunk-Provider derzeit jährlich weltweit für ihren
Sprach-Service ein. Laut Gartner wird VoIP hier in den kommenden Jahren aber eine kleine Revolution
lostreten: Mehr als 50 Prozent der mobilen Sprachkommunikation soll bis zum Jahr 2019 über
End-to-End-VoIP laufen. Aus Sicht der Mobilfunknutzer prognostiziert der Marktforscher hier sogar
eher konservativ – beim derzeitigen Preisgefälle zwischen Mobilfunk- und VoIP-Gebühren würden diese
erheblich schneller und in deutlich höherer Zahl auf "Mobile VoIP" wechseln. Derzeit verhindern
dies allerdings vielerorts noch die künstlichen VoIP-Barrieren der Mobilfunk-Provider, deren
Rechtmäßigkeit aber zunehmend in Frage gestellt wird.

Sobald VoIP – beispielsweise in Form von SIP-Clients auf den PDAs und Smartphones – im großen
Stil Einzug hält, wird sich nicht nur der Mobilfunkmarkt grundlegend ändern, auch die Integration
in das unternehmensweite Kommunikationsszenario wird einen neuen Push erleben. Telefonie ist in den
meisten Unternehmen immer noch in Festnetz und Mobilfunk zweigeteilt – mit allen negativen Folgen:
Mitarbeiter können wichtige Funktionen wie etwa Gesprächsmitschnitte oder das Ändern von
Rufumleitungen unterwegs nicht nutzen und besitzen zudem mehrere Telefonnummern – für Festnetz,
Mobilfunk und Home Office.

SIP-Clients auf PDAs und Smartphones

In einer konvergenten Umgebung fallen diese Hindernisse weg. Es existieren derzeit
unterschiedliche Herangehensweisen, um FMC zu realisieren. Viele Lösungen am Markt nutzen das
GSM-Mobilfunknetzwerk als technische Basis für die Kommunikation zwischen Mobilfunkgerät und einem
Mobility-Server in der TK-Infrastruktur. In diesem Fall erfolgt eine Signalisierung der
Steuerungsbefehle (etwa um einen Ruf auf Halten zu legen) durch das gleichzeitige Übertragen von
entsprechenden DTMF-Sequenzen (Dual Tone Multi Frequency) während eines Telefongesprächs. Diese
klassische Technik hat den Vorteil, dass die FMC-Basisfunktionen mit nahezu jedem GSM-Mobiltelefon
funktionieren. "Wesentlich einfacher und bequemer für den Nutzer ist es jedoch, wenn die speziell
für FMC entwickelten Mobility-Clients auf dem Handy installiert werden", weiß Dr. Michael Thomson,
Leiter Produkt-Management beim deutschen Hersteller Swyx. "Diese Clients gibt es meist für die
mobilen Plattformen Symbian, Windows Mobile und Blackberry. Um Iphone-Nutzern die Vorzüge von
Unified Communications verfügbar zu machen, bietet Swyx mit ?Swyxmobile? eine einfache Integration
in die persönliche Büroumgebung." Fast alle Business-Handys unterstützen mittlerweile neben GSM
auch WLAN/SIP. Gleichzeitig verfügen viele Unternehmen über eine WLAN-Infrastruktur. Da liegt es
nahe, FMC auch über das SIP-Protokoll zu realisieren, da so keine Mobilfunkkosten entstehen. Einige
Hersteller kombinieren diese beiden technischen Ansätze, nahtloses Handover inklusive.

Eine gute FMC-Integration ist in der Lage, unternehmensinterne Kommunikationsabläufe deutlich zu
vereinfachen und zu beschleunigen: Alle Mitarbeiter sind mit jedem Telefon unter einer
einheitlichen Telefonnummer zu erreichen. Mit dem Handy getätigte Rufe werden dem Gesprächspartner
dabei mit Durchwahl (Büronummer) angezeigt. Teamkollegen im Büro sehen durch die Einbindung in das
Presence-Management jederzeit, ob ein Mitarbeiter gerade mit seinem Handy telefoniert. Umgekehrt
kann ein mobiler Benutzer auf einen Blick erkennen, wie der Teamkollege im Office im Augenblick am
besten erreichbar ist. Benutzer können außerdem Rufumleitungen schnell außerhalb des Büros
aktivieren beziehungsweise deaktivieren, um eingehende Anrufe auf andere Mitarbeiter oder auf die
Voicemail umzuleiten.

VoIP-Trends: Wideband Codecs für bessere Sprachqualität

Größter Vorteil von VoIP ist unbestritten seine Flexibilität. "Die Implementierung
paketorientierter Dienste mit der gleichen Sprachqualität wie bei bisherigen Systemen ist
allerdings herausfordernd", konstatiert Dr. Alexander Raake, Senior Scientist bei den T-Labs
(Deutsche Telekom Laboratories). Der Wissenschaftler gab in seinem Vortrag auf einem Fachkongress,
den das Telekom Forum gemeinsam mit den T-Labs kürzlich in Berlin abhielt, eine Einschätzung, wohin
der Weg mit VoIP führt. Ziel müsse es demnach sein, die Flexibilität von VoIP zu nutzen und
gleichzeitig die Qualität deutlich zu verbessern. Die Qualität von VoIP werde beispielsweise durch
Verzögerungen oder durch Paketverluste beeinträchtigt. "Verbesserungen sind möglich, wenn die
begrenzte Übertragungsbandbreite erweitert wird", so Raake. Grundvoraussetzung hierfür sei der
Einsatz eines Wideband- (50 bis 7.000 Hz) statt eines Narrowband-Codecs (300 bis 3.400 Hz).

Tests mit Versuchspersonen hätten ergeben, dass diese die Qualität eines VoIP-Telefonats bei der
Nutzung von Wideband um 30 Prozent besser einschätzten, als wenn Narrowband-Codecs eingesetzt
wurden. "Selbst wenn Hintergrundgeräusche vorhanden waren, wurde die Sprachverständlichkeit bei
Wideband besser beurteilt als bei Narrowband", so Raake. "Die weitere Zukunft liegt dann bei
Ultra-Wideband- beziehungsweise Audio-Codecs." Generell mache High-Definition-Telefonie auch eine
Reihe neuer Voice-Services möglich. Als zukünftigen Trend in diesem Bereich prognostizierte Raake
Spatial Audio Conferencing. Dies erlaube eine räumliche Wiedergabe bei Telefonkonferenzen, sodass
unter anderem der Sprecher deutlich besser herausgehört werden könne. Bei den T-Labs existierten
schon eine Reihe von Demo- und Prototypensystemen in diesem Bereich.


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