Die Krönung der Schöpfung hat Konkurrenz bekommen: »Starke KI«, neuronale Computernetze und Robotic versprechen eine autonome Maschinenwelt, ja sogar ein überzeitliches Dasein des Menschen. Wo sind die roten Linien? Noch ist es nicht zu spät über Ethik und einen digitalen Humanismus zu verhandeln.
»Darf ich ein Selfie mit Ihnen machen?«, fragte der Verfasser dieses Beitrags. Wenn man schon einmal zufällig neben einem ehemaligen Kulturstaatsminister und Philosophen im Flugzeug sitzt, dann sollte, ja muss man das – ganz dem modernen Digitaldrang folgend – der Community doch mitteilen! Warum Julian Nida-Rümelin eher unbeteiligt dem Selfie-Wunsch nachkommt und auf dem Bild nachdenklich in die Ferne blickt, wird dem Verfasser erst später klar. Es liegt jedenfalls nicht am Habitus eines zur Elite des Bildungsbürgertums gehörenden Wissenschaftlers.
Schließlich ist Julian Nida-Rümelin als freundlicher und umgänglicher Zeitgenosse bei seinen Studentinnen und Studenten sehr beliebt, und er ist – im Gegensatz zu eher distanzierten und digitalabstinenten Professoren – sogar bei Facebook hin und wieder aktiv. Es liegt vielmehr daran, dass der Philosoph die Funktionsweise soziale Kanäle und anderer virtueller Räume vermisst und die dramatischen Folgen disruptiver Technologien für Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur reflektiert.
Die Gefährungen, die Nida-Rümelin gemeinsam mit Co-Autorin Nathalie Weidenfeld in ihrem sehr lesenswerten Buch (»Digitaler Humanismus – Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz«, Piper, 2018, mittlerweile 3. Auflage) für die Spezies Mensch im Zeitalter der Digitalisierung heraufziehen sehen, lässt sich auf einen Punkt bringen: Zieht man jetzt in der rasant fortschreitenden Technologieentwicklung keine klaren roten Linien, wird der Mensch in seiner Welt von morgen, so wie wir ihn heute beschreiben, nicht mehr definiert werden können. Wenn Hollywood in die Zukunft blickt, kommt ein meist dystopischer Science Fiction-Film dabei heraus. Alles nur Fiktion? Dazu später mehr.
Narzisstische Regression
Peinlich berüht liest der Verfasser nach dem Selfie-Vorfall am Düsseldorfer Flughafen drei Wochen später auf Seite 144 bei Nida-Rümelin und Weidenfeld von einem »Problem«, nämlich einer durch Selfies zu beobachtenden »kulturellen Regression«, die einzelne Erwachsene »mit instabilem Charakter«, vor allem aber Jugendliche und Kinder erfasse. »Die Selfie-Kultur […] kann als eine Art der Wiederauflage der Geste der mythologischen Figur des Narzissmus gesehen werden …«, heißt es da. Der Schuss Dopamin, den jeder »Like« auf Instagram, Twitter, Snapchat und Facebook fördere, begünstige narzisstisches Verhalten«, wie viele Psychologen erklären. Das resultiere wiederum aus der Angst vor eigenem Erleben; sich also mit dem Bild zu begnügen anstatt real in der Welt zu sein, zitiert Nida-Rümelin ferner Medienwissenschaftler und Medienphilosophen.
Nun kann man dagegenhalten, dass Selfies doch die logische Fortentwicklung der Fotografie und eine zeitgemäße Variante des in der Kunst schon früh etablierten Selbstporträts sind. Dürer und andere Künstler der Renaissance waren diesbezüglich Profis in der Selbstbespiegelung. Und sie waren schließlich Trendsetter und »Influencer« in eigener Marken-Sache. Ihr Narzissmus hat ihnen ökonomisch nicht geschadet, im Gegenteil. Narzissmus, sofern er als »Narzissmusfalle» (Reinhard Haller) nicht pathologisch ist, hat dem Narzissten in ökonomischer Hinsicht früher wie heute noch nie geschadet.
Selfies, die freilich in Massen täglich die sozialen Kanäle fluten, sind Teil dessen, mit dem sich die Philosophie schon immer beschäftigte: Nämlich dem Verhältnis zwischen realem und abgebildetem Raum. Neu ist, und deshalb ist Nida-Rümelins und Weidenfelds Buch so wichtig, dass Technologie diesen Raum zunehmend einebnet und zwar in einer nie dagewesenen Qualität
So weit und tief mittlerweile, dass das Virtuelle mehr und mehr unsere Kommunikation und Interaktion im ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Raum bestimmt - wenn nicht gar in Teilen heute schon dominiert oder erst noch beherrschen wird. Der Selfie-Trend erscheint da nicht mehr als eine Fußnote in dieser Digital-Revolution zu sein, wenn man Schlagzeilen wie diese liest: »Roboter Sophia bekommt Saudi-Arabiens Staatsbürgerschaft« (FAZ).