Grenzen der Digitalsierung und Künstlichen Intelligenz

Frankensteins Erbe

30. April 2019, 16:00 Uhr | Martin Fryba

Fortsetzung des Artikels von Teil 1

Kein digitales Schlaraffenland

Zu jedem philosophischen Argument fielen Nathalie Weidenfeld Beispiele aus der Filmliteratur ein. Das macht das Buch Digitaler Humanismus sehr lesenswert.
Zu jedem philosophischen Argument fielen Nathalie Weidenfeld Beispiele aus der Filmliteratur ein. Das macht das Buch Digitaler Humanismus sehr lesenswert.
© Diane von Schön

Was kann, was darf eine Gesellschaft vor dem Hintergrund der sich rasant entwickelnden Digitalisierung und der immer perfekter werdenden Künstlichen Intelligenz akzeptieren? Wo müssen strikte Grenzen gesetzt werden? Technologische, weil ethische Grundwerte verletzend, aber auch sozialpolitische rote Linien, die ein Überschreiten ein liberales, freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen als Bedrohung seiner Grundordnung sehen muss.

Bots und Trolle machen heute schon Wahlkampf und sind Mittel einer gezielten und sehr effektiven Desinformation - mit kaum zu überschätzendem Gefährungspotenzial für alle Demokratien. In der Kundenkommunikation werden Chatbots und dergleichen freilich zunehmend Teil einer ökonomischen Automatisierungsstrategie, die mittels größtmöglicher Entpersonalisierung auf Effizienz, Produktivität und Kostensenkung setzt.

Ob Maschinenvernetzung in einer Industrie 4.0, Roboter in der Pflege oder in anderen Dienstleistungssektoren, Softwaresysteme im autonomen Fahren, in der schulischen, akademischen oder beruflichen Bildung, bei der Erstellung von Büchern und in der Produktion bildender Kunst: Algorithmen als Basis für künstliche Intelligenz und Deep-Learning-Systeme werden unser 21. Jahrhundert tiefgreifend bestimmen. Wie weit in welchen Bereichen wollen wir das zulassen?

Wird eine weitgehend entpersonalisierte digitale Arbeitswelt die Menschheit von Arbeit so »befreien«, dass sie, alimentiert durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, im »digitalen Schlaraffenland« dem Müßiggang frönen kann, wie es der Anarchismus und der utopische Sozialismus im 19. Jahrhundert geträumt hatten? Technologischer Fortschritt mag ganze Berufsfelder und Tätigkeiten obsolet machen, es entstanden und entstehen aber auch immer neue Arbeitsplätze durch Innovationen, die – das zeigen die Autoren knapp im historischen Rückblick – in Summe mehr Jobs entstehen ließen als sie beseitigten.

Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, wie es auch namhafte Ökonomen fordern, lehnt der digitale Humanismus ab. Es »käme einer Kapitulation gleich« und würde die Gesellschaft spalten in dauerhaft Erwerbstätige und dauerhaft Erwerbslose (Seite 185), schreiben Nida-Rümelin und Weidenfeld. Antriebslos, stumpf, fett und unfähig sich zu bewegen, dafür permantent in Bildschirme starrrend, rundumsorglos allzeit von Robotern bedienend, so wie Regisseur Andrew Stranton die Menschen im Film Wall-E zeichnet, schaut das Paradies aus für so manchen Evangelisten aus dem Silicon-Valley.

Anti-Humanismus: Die »Starke KI«
Auf welcher vor allem ethischen Grundlage diese Industrierevolution passieren soll, wie weit Softwaresysteme gehen dürfen, nicht mehr Menschen sondern Maschinen zum Handlungsträger für (womöglich automatisierte) Entscheidungen verantwortlich zu machen - mit ungelösten Rechtsfolgen, übrigens - muss heute und nicht erst morgen verhandelt werden. Der grenzenlosen, bisweilen unreflektierten und oft genug nur ökonomisch getriebenen Euphorie der »Silicon-Valley-Ideologie« stellen Nida-Rümelin und Weidenfeld einen digitalen Humanismus entgegen. Das gleichnamige Buch ist ein dringender und eindringlicher Appell, das Humane mit dem technologisch Sinnvollen zu versöhnen.

Vor allem ist es ein Appell auch an die Softwareindustrie, die Grenzen digitaler Technik für einen digitalen Humanismus zu achten. Sich auf verbindliche ehtische Standards zu verständigen, ist keinesfalls sicher. Denn es gibt massiven Widerstand nicht nur im Silicon Valley, sich durch eine wie auch immer festgelegte conditio humana limitieren zu lassen.

Worin liegen die im digitalen Humanismus beschriebenen Werte, die nicht zur Disposition gestellt werden dürfen? Es ist vor allem die dem Menschen eigene Willensfreiheit, autonom und in genuiner Autorenschaft über sein Leben entscheiden zu können. Abwägungen von Gründen, die nicht etwa durch einen rationalen Code determiniert sind (wie es etwa im autonomen Fahren auch in Extremsituationen so sein müsste, zum Beipiel durch »Algorithmen des Todes«), spielen im Selbstbild eines Menschen eine zentrale Rolle. Verhalten und mentale Zustände wie etwa Liebe, Wünsche oder Erwartungen können Maschinen noch so perfekt simulieren, sie bleiben in einem digitalen System nicht mehr und nicht weniger eine Simulation. Sie »darf nicht mit Realisierung verwechselt werden« (Seite 41).


  1. Frankensteins Erbe
  2. Kein digitales Schlaraffenland
  3. Frankenstein lässt grüßen

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