Digitaler Gedächtnisschwund

23. Februar 2006, 0:00 Uhr |

Fortsetzung des Artikels von Teil 2

Digitaler Gedächtnisschwund (Fortsetzung)

Migration und Emulation
Die Formatmigration, d.h. die Umwandlung einer Datei in ein anderes aktuelleres Format, ist eine der möglichen Strategien für die langfristige Erhaltung digitaler Objekte. So können zum Beispiel mit Word 2.0 in einer MS-DOS-Umgebung erstellte Dokumente in ein aktuelles Textverarbeitungsformat überführt werden. Für diese Umwandlungen ist eine genaue Kenntnis der vorhandenen Datenformate bzw. ihrer Formatspezifikationen notwendig. Insbesondere bei komplexen Formaten können sich erhebliche Probleme ergeben, die letztlich einerseits die Kosten ansteigen lassen und andererseits auch Datenverluste mit sich bringen.
Allgemein sind Migrationen häufig mit Datenverlusten verbunden ? es ist nicht immer möglich, ein Objekt mit all seinen Eigenschaften (Inhalt, Form, Funktionalität etc.) in ein aktuelleres Format zu überführen. In diesem Zusammenhang muss festgelegt werden, ob, und wenn ja welche Verluste akzeptabel und mit welchem Aufwand die so definierten Ziele zu erreichen sind. So wäre zum Beispiel auch die Überführung der erwähnten Word-2.0-Dateien in aktuelle PDF Dateien denkbar, wenn auf die Textverarbeitungsfunktionen verzichtet werden kann.
Die Emulation ist eine weitere Strategie zur langfristigen Sicherung der Nutzbarkeit digitaler Daten. Bei ihr wird die Umgebung an das Objekt angepasst, das zu archivierende Objekt bleibt unverändert. Sie kann auf verschiedenen Ebenen eingesetzt werden: es lassen sich sowohl Hardware-Plattformen als auch Betriebssysteme oder Anwendungssoftware emulieren. Man simuliert also auf einem aktuellen Rechner die Hardware, das Betriebssystem oder bestimmte Anwendungen und nutzt sie so zur Darstellung von archivierten digitalen Inhalten.
Sehr verbreitet ist diese Strategie beispielsweise bei den Anhängern älterer Spielesoftware; so ist eine Vielzahl von Emulatoren verfügbar, die den berühmten Commodore C64 auf aktueller Hardware nachbilden und es erlauben, die auf diese Plattform angepassten Programme auf aktuellen Computern darzustellen. Ebenfalls recht verbreitet sind Emulatoren, die es erlauben, auf einem Macintosh-Rechner Microsoft Betriebssysteme und entsprechende Anwendungssoftware zu installieren, welche die Hardware eines IBM-kompatiblen Rechners emulieren.
Bei komplexen Objekten ist eine Emulationsstrategie häufig nur schwer implementierbar. Den teilweise enormen Entwicklungsaufwand, der für die Emulation eines Objekttyps getrieben werden muss, ist für jeden weiteren Generationswechsel erneut vonnöten, wenn man die archivierten digitalen Objekte weiterhin verfügbar halten will.

Unklare Rahmenbedingungen
Erheblich aufwändiger als die Bewältigung der technischen Probleme könnte die Entwicklung der Rahmenbedingungen für die digitale LZA in Deutschland sein. Bisher ist dieser Bereich eher vernachlässigt worden. Fragen der Zuständigkeit für die LZA digitaler Objekte sind bspw. bislang kaum geregelt. Stillschweigend wird häufig davon ausgegangen, dass die für die Sicherung der analogen Medien/Daten zuständigen Stellen auch die LZA der digitalen Objekte übernehmen werden. Diese Annahme könnte sich als trügerisch erweisen ? bisher sind allenfalls Ansätze oder Prototypen von praktischer digitaler LZA in Deutschland vorhanden; eine geordnete verteilte LZA findet nicht statt. Die in diesem Zusammenhang sehr wichtige Frage der Finanzierung ist ebenfalls weitgehend ungeklärt.
Da sich die technische und organisatorische LZA nicht im rechtsfreien Raum abspielt, bedarf es dringend entsprechender Anpassungen der Rechtslage, damit die dauerhafte Archivierung legal umgesetzt werden kann. Insbesondere die aktuellen Regelungen des Urheberrechtes erlauben häufig nicht die Anwendung adäquater Mittel zur digitalen Bestandserhaltung. Eine Formatmigration ist beispielsweise immer auch eine Veränderung der urheberrechtlich geschützten Ursprungsdatei und fällt damit unter das Urheberrecht.
Um größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten, müssen in der Regel die Dateien sowohl in den Originalformaten gesichert als auch die Ergebnisse von Migrationsschritten an verschiedenen Orten redundant vorgehalten werden. Es finden also Kopiervorgänge statt, die unter Umständen nicht mit dem Urheberrecht in Einklang stehen. Ebenso ist es für die meisten archivierenden Institutionen nicht legal möglich, etwaige Kopierschutzmechanismen zu umgehen, da diese durch die bestehende Rechtslage besonders geschützt werden.
Die Liste der offenen Fragen in Bezug auf die LZA lässt sich beliebig fortschreiben. Hinsichtlich der technischen Umsetzung und besonders bezüglich der gesellschaftlichen und juristischen Rahmenbedingungen besteht dringender Handlungs- und Diskussionsbedarf. Ein Instrument zur Initialisierung entsprechender Aktivitäten ist Nestor, das Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung, das sich darum bemüht, die involvierten Parteien zusammenzubringen, die notwendigen Informationen bereitzustellen und eine geregelte, verteilte LZA in Deutschland vorzubereiten.   

Stefan Strathmann ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Niedersächsische Staats? und Universitätsbibliothek Göttingen im Projekt nestor ? Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung tätig


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