funkschau: Adesso hat vor Kurzem die Ergebnisse einer Befragung von fast 1.000 Verantwortlichen in der DACH-Region zum Thema KI vorgestellt. Eine Quintessenz: Jeder Zweite attestiert seiner Firma KI-Nachholbedarf. Was sind die Gründe dafür?
Gruhn: Vorab: Es liegt nicht daran, dass die Verantwortlichen dem Thema KI keine Bedeutung beimessen. Über 80 Prozent stimmen der Aussage zu, dass der Einsatz von KI zu Wettbewerbsvorteilen führt. Im Rahmen der Studie fragten wir Hindernisse rund um den KI-Einsatz ab. Ein Aspekt ist dabei auffällig: 38 Prozent geben an, dass es in ihren Unternehmen Widerstände gegen KI-Lösungen gibt. Das deckt sich ungefähr mit dem Anteil der Befragten, die glauben, dass KI-gestützte Anwendungen Jobs in ihrem Aufgabenbereich überflüssig machen. Es gibt bei einem guten Drittel offensichtlich Bedenken gegenüber der Technologie. Diese Bedenken sind ein Faktor, der das Durchstarten von KI erschwert.
Ein anderer Aspekt: der Mangel an qualifizierten Mitarbeitenden. Wir baten die Befragten, die zentralen Herausforderungen für die nächsten drei Jahre zu benennen. Fast 40 Prozent schreiben dieses Thema ganz ob auf ihre Agenda. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt befürchte ich, dass uns das Problem noch eine Zeit begleitet.
funkschau: Was raten Sie Unternehmensentscheidern, die vor der Frage stehen: In KI investieren oder nicht? Worauf gilt es besonders zu achten?
Gruhn: Ich würde raten, zunächst nicht über Künstliche Intelligenz nachzudenken, sondern über die Ziele eines Projektes. Was soll unsere Lösung können? Welche Prozesse wollen wir verbessern? Wer setzt die Anwendung ein? Haben alle Beteiligten eine gemeinsame Vorstellung über diese Punkte, geht es an die Auswahl möglicher Werkzeuge für das Umsetzen. KI kann so ein Werkzeug sein, ist aber keine Allzweckwaffe. So sind die Voraussetzungen für KI – Stichwort Daten – nicht immer gegeben. Oder rechtliche Anforderungen sprechen gegen den Einsatz. Das ergebnisoffene Prüfen dieser Voraussetzungen gehört an den Anfang jedes Projektes. So verhindern Unternehmen, Mittel in Technologien zu investieren, die sich mit fortschreitendem Projekt als ungeeignet erweisen.
Fällt die Wahl nach diesen Überlegungen auf KI-Technologien, ist die Zusammensetzung des Teams entscheidend für den Projekterfolg: Data Scientist, Machine-Learning-Fachleute und die Experten aus den Fachabteilungen gehören an einen Tisch. Denn das Verstehen von Geschäftsprozessen ist für das Entwickeln von KI-Lösungen genauso wichtig wie das technische Know-how oder die Datenexpertise. Nur gemeinsam entwickeln sie passende Anwendungen. In der unternehmerischen Praxis ist genau dieses Miteinander häufig das Problem. Die Verantwortlichen müssen Prozesse schaffen, die die Grenzen zwischen den Abteilungen und in den Köpfen überwinden.
funkschau: Von Seiten der EU wurden vor Kurzem erste Schritte in Richtung „vertrauenswürdige KI“ eingeleitet: So legte die EU-Kommission am 21. April 2021 den weltweit ersten Rechtsrahmen für KI vor. Für KI-Systeme mit hohem Risiko sollen demnach strenge Vorgaben vor Markteintritt gelten. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen in der Gesetzgebung? Werden damit die Weichen – oder Hürden – für die Zukunft von KI gestellt?
Gruhn: Weiche oder Hürde ist eine Frage der Perspektive. Was Gift für den Einsatz einer Technologie wie KI ist, ist Unsicherheit. Sind die Verantwortlichen in Unternehmen unsicher über die Grenzen, innerhalb derer sie arbeiten können, werden sie sich Investitionen zweimal überlegen. Sind dagegen die Rahmenbedingungen klar, erhöht das die Planungssicherheit.
Es gilt, den Anwendungsfall zu beachten. Interessiert ein Unternehmen, welche Maschinenauslastung optimal ist, sind Aspekte wie Vertrauenswürdigkeit nur am Rande interessant. Schlägt eine KI-Anwendung hingegen nach einer Operation einen Reha-Plan vor, berührt dies persönliche Lebensbereiche eines Menschen. Dann müssen andere Maßstäbe für den Einsatz von KI gelten. Mit der Unterteilung in die Kategorien unannehmbares, hohes, geringes oder minimales Risiko schlägt die Europäische Kommission in diese Kerbe. Die Mehrheit der KI-Anwendungen gehört zu denen mit minimalem Risiko – und werden entsprechend wenig reguliert. Rechtliche Grenzen sollten nicht so eng sein, dass sie jede Innovationsfreude im Keim ersticken. Aber ich möchte nicht in einer Welt leben, in der KI-Anwendungen völlig ohne Regulierung vor sich hin werkeln können.