Homo internetsensis

Mehr als das halbe Leben im Netz

19. April 2022, 10:15 Uhr | Martin Fryba
© AdobeStock/Milles Studio

Surfen, schuften, schlafen: Der digitale Deutsche unter 40 Jahren verbringt sage und schreibe 86 Stunden die Woche im Internet. Warum Berliner eigentlich am längsten im Internet surfen und Sachsen wieder einmal das Schlusslicht ist?

Beruf, Familie und Freunde, gesegneter Schlaf. Dieser schöne harmonisch  dreigeteilte Tagesrhythmus gilt schon lange nicht mehr. Die Zahlen der Postbank-Digitalstudie haben schon im ersten Corona-Jahr erschreckt, und nun hat sich der Trend verfestigt: Über alle Generationen hinweg liege die Internetnutzung im zweiten Corona-Jahr auf hohem Niveau: „Durchschnittlich 65,2 Stunden surfen die Bundesbürger*innen in sieben Tagen, im Vorjahr war es mit 65,1 Stunden etwa gleich viel Online-Zeit“, heißt es in der Studie. Mehr geht ja auch fast nicht mehr. Die Nutzung im ersten Corona-Jahr war von 56,4 auf 65,1 Stunden kräftig angestiegen, 2019 surfte der durchschnittliche Deutsche nur knapp 50 Stunden pro Woche. Die Pandemie mit den vielen Lockdowns hat den Medienkonsum noch stärker ins Internet verlagert.

Digital Natives: mehr als 12 Stunden am Tag im Netz
Der moderne Mensch verbringt mittlerweile mehr als sein halbes Leben im Internet. Zumindest gilt das für die Generation der unter 40-Jährigen. Hier ermittelte die Postbank nämlich einen Internetkonsum von 86,1 Stunden pro Woche. Man will sich die Zahl gar nicht vorstellen, die für noch Jüngere gilt, welche quasi mit Wifi-Inside auf die Welt kommen. Und man fragt sich,  wie das rechnerisch gehen soll: Zieht man von einer faktischen 168-Wochenstunde 86 Stunden Internetzeit und 40 Stunden für das Arbeiten ab (ohne Fahrweg), bleiben 42 Wochen-Stunden übrig, also sechs Stunden pro Tag, die man fürs Schlafen übrig hat.

Das kann natürlich durchaus reichen. Napoleon soll mit der Hälfte ausgekommen sein. Musste er auch bei den vielen Schlachten, die er im Europa der Brieftauben- und Pferdepost-Kommunikation angezettelt hatte. Nun ist nicht  jeder ein Napoleon, auch wenn sich viel zu viele für so einen halten. Die Studienautoren der Postbank zählen brav Zahlen, beschreiben sie mit hübschen Grafiken, enthalten sich aber sonst jeglicher Kommentierung. Nur eines scheint ihnen Gewiss: „Während der Corona-Krise haben viele Deutsche ihre beruflichen und sozialen Kontakte auf das Internet verlegt. Und auch wenn die Büros wieder bevölkert sein werden und Freundestreffen im Restaurant stattfinden, wird ein großer Anteil der Kommunikation weiterhin über digitale Kanäle verlaufen“, erwartet Thomas Brosch, Leiter Digitalvertrieb der Postbank.

Nostradamus reloaded: Digitale Demenz!
Soziologen, Neurologen, Psychiater und sonstige Vertreter der für den Geist und die Gesundheit einer Gesellschaft ausgebildeten Experten werden sich berufen fühlen, über die Folgen für den homo internetsensis zu spekulieren. Hirnforscher Manfred Spitzer, erfolgreicher Buchautor und Nostradamus des 21. Jahrhunderts, wusste es schon immer (vermutlich sogar schon vor der Einführung des Internets und Smartphones),  dass die „digitale Demenz“ unsere Kinder um den Verstand bringt,  so der Titel seines  2012 erschienenen Buchs. Spitzer vergisst freilich nicht, diverse Derivate seiner immer gleichen These zwischen Buchdeckel zu pressen, die es selbstverständlich auch digital zu kaufen gibt.

Verblödung hin oder her: Postbank-Manager Brosch jedenfalls will und muss auf den Digitaltrend reagieren und das heißt nichts Gutes für Filialgeschäfte. „Auch für die täglichen Bankgeschäfte wird das Handy immer mehr zur digitalen Filiale. Bereits ein Drittel der Deutschen nutzt dafür in den meisten Fällen eine Banking-App“, sagt er. Jederzeit Zugriff auf Finanzdaten, will der vernetzte Mensch haben.

Internetnutzung: Sachsen Schlusslicht
Spätestens aber beim Zahlenwerk der Internetnutzung nach Bundesländern, die die Postbankstudie aufführt, rächt sich der Umstand, dass kein Ethnologe darin zu Wort kommt. Zu gerne hätte man gewusst, warum ein Berliner mit durchschnittlich 72,4 Stunden in der Woche an der Spitze der Internetnutzung steht, während ein Sachse mit lediglich 53,3 Stunden das Schlusslicht der Republik bildet.

Da sind sie wieder die renitenten, den eigenen Kopf auf den Schultern tragenden Sachsen. Würde man sich auf kabarettistische Quellen berufen, also auf die Heute-Show, hätte man eine Erklärung für die Differenz. Sachsen, so die Humorinstanz beim ZDF, würden immer das Gegenteil von dem tun, was Wissenschaftler feststellen. Der Mensch wolle wirklich jederzeit online alles verfügbar haben? Leuchtet einem Sachsen eher nicht ein.

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