Die zweite zentrale Frage betrifft die der Alters- und Zugangsbeschränkungen für Plattformen und Dienste, sowie den darauf stattfindenden Inhalten. Eigentlich hätte auch das italienische Mädchen noch gar keinen Zugang zu Tiktok haben dürfen, das offiziell Nutzer erst ab 13 Jahren aufnimmt. Ausschlaggebend dafür sind allerdings nur, wie leider allzu oft, die Angaben der Nutzer selbst. Überprüft werden sie in der Regel nicht. Die italienischen Behörden haben Tiktok deshalb jetzt mit der Auflage bedacht, vorläufig nur noch Nutzer mit sicher verifiziertem Alter den Zugang zu gewähren. Die Beschränkung gilt zunächst bis 15. Februar, ob sie verlängert wird soll von den Untersuchungen abhängen. Im Prinzip ist die App damit aktuell landesweit gesperrt.
So erstrebenswert sie wäre, ist eine sichere Altersverifikation allerdings für die Betreiber derzeit kaum möglich, zumal bei Kindern. Deren Smartphones sind meist auf die Eltern registriert, die wiederum allzu oft aus einer Mischung aus Faulheit und Überforderung heraus weder genau wissen, wo sich ihre Kinder herumtreiben, noch was sie dort erleben und teilen. Die Eltern des verstorbenen Mädchen wussten zwar, dass diese auf Tiktok war, ob ihnen auch das dort geltende Mindestalter bewusst war, ist nicht bekannt. Auch was ihre Tochter auf der Plattform so trieb, war ihnen zwar oberflächlich bekannt, aber nicht bewusst. Gegenüber italienischen Zeitungen gaben sie an, ihre jüngere Tochter hätte ihnen noch erzählt, dass die Schwester im Bad »Blackout spiele«. Sie seien jedoch davon ausgegangen, dass es sich dabei um eine Art Tanzspiel handle.
Dementsprechend ziehen sich auch die Nutzer und insbesondere Eltern nur allzu gerne aus der Verantwortung zurück und setzen dem Nachwuchs kaum ernsthafte Grenzen. Selbst die von manchen stolz hochgehaltenen Maßnahmen wie begrenzte WLAN-Kontingente und digitale Kindersicherungen können hier nur der Anfang sein. Wer sich ernsthaft für seine Kinder interessiert, der muss sich auch intensiv mit ihrem digitalen Leben auseinandersetzen. Dazu gehören gerade jene Dienste und Inhalte, die einen selbst nicht ansprechen. Denn ins Analoge übertragen: Wer würde seinen Kindern – zudem unbeobachtet – ein Spiel- oder gar Werkzeug in die Hand geben, von dem er zwar weiß, dass es hochgradig gefährlich sein kann, das er sich aber nie selbst angeschaut hat? Wer also etwa zu den Tausenden Eltern gehört, die nur zu gerne glauben wollen, ihr Achtjähriger spiele mit Fortnite (FSK 12) ein Tanzspiel, der sollte dringend damit anfangen, zunächst einmal die eigene Medien- und Erziehungskompetenz zu hinterfragen.
Wenn sich allerdings sowohl die Konzerne als auch die Nutzer in dieser Weise als machtloser Spielball gerieren, wird es auch dem Staat unnötig schwer gemacht, regulierend einzugreifen. Um wirklich eine Chance zu haben, solche Vor- und Unfälle möglichst weitgehend zu vermeiden, muss sich auf beiden Seiten grundlegendes im Umgang mit dem Netz, seinen Plattformen und Inhalten ändern. Die Zauberformel dafür lautet im digitalen Leben genauso wie im analogen: Aktive Mitgestaltung statt tumber Berieselung. Die Nutzer müssen dazu zuerst mehr Verantwortung für ihr Verhalten und dessen Auswirkungen und Spuren übernehmen und sich intensiv mit diesen Fragestellungen und den eigenen Einflussmöglichkeiten an den Zuständen auseinandersetzen. Dann sind sie auch ausreichend gerüstet, um ganz konkret und mit dem nötigen Nachdruck fordern und festzulegen zu können, was sie auf der anderen Seite von den Plattformen und ihren gewählten Volksvertretern erwarten.