Informationen aus der ITV-Recherche legen indes nahe, dass Amazon die Warenvernichtung nicht wie behauptet zu reduzieren versucht, sondern im Gegenteil sogar aktiv forciert. Ein ehemaliger Mitarbeiter berichtete dem Sender beispielsweise, dass die Angestellten am schottischen Standort die Zielvorgabe hätten, jede Woche 130.000 Produkte zu vernichten. Das soll offenbar den Warendurchsatz erhöhen und von Ladenhütern dauerbelegte Lagerplätze frei räumen. Ein internes Memo, das den Journalisten zugespielt wurde, bestätigt das und enthält auch konkrete Zahlen dazu. Diesen zufolge wurden in einer Woche im April 2021 rund 124.000 Artikel der Zerstörung zugeführt, während etwa 28.000 gespendet wurden. Ganz nebenbei zeigte das, dass auch die steuerfreie Spende nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann.
Zudem ist die tägliche Vernichtungsorgie auch rechtlich durchaus ein Problem. Erst im vergangenen Jahr hatte der Bundestag auf die anhaltende Kritik am Retourensystem und der gezielten Warenvernichtung reagiert und im Rahmen der Reform des Kreislaufwirtschaftsgesetzes neue Regeln für Händler eingeführt. Die seit einem Jahr geltende „Obhutspflicht“ verlangt „beim Vertrieb der Erzeugnisse, auch im Zusammenhang mit deren Rücknahme oder Rückgabe, dafür zu sorgen, dass die Gebrauchstauglichkeit der Erzeugnisse erhalten bleibt und diese nicht zu Abfall werden“. Mit anderen Worten darf Neuware also eigentlich nicht mehr abgewrackt werden. Dessen ungeachtet bietet Amazon den Händlern jedoch genau das weiterhin als Service an. Da es allerdings noch immer an einer entsprechenden Rechtsverordnung mit Strafkatalog zur Umsetzung des Gesetzes fehlt, sind die drohenden Konsequenzen daraus bisher vernachlässigbar.
Aber selbst wenn die Verordnung vom künftig grün geführten Umweltministerium bald eingeführt werden sollte, würde sich damit an der Praxis wohl nicht allzu viel ändern. Denn zumindest beschädigte Ware darf auch nach dem neuen Gesetz weiterhin vernichtet werden. Ein Umstand, den Amazon wohl für sich zu nutzen gedenkt. Greenpeace will Belege dafür haben, dass der Konzern dazu bereits in einigen Logistikzentren den Ernstfall geprobt hat, wie sich neuwertige Produkte effizient kaputt machen lassen. Dabei sollen etwa originalverpackte Kleidungsstücke einfach kurz mit einer Schere bearbeitet worden sein, um sie dann sorgenfrei aussortieren zu können. Wie sich all das mit den ESG-Bestrebungen vertragen soll, mit denen Amazon ein „nachhaltiges Geschäft für unsere Kunden, Communities und die Welt“ erschaffen will, ist höchst fraglich.
Eine weitere offene Frage ist, wie Amazon mit echter und vermeintlicher B-Ware verfährt. Bei Recherchen berichten Distributoren ICT CHANNEL immer wieder davon, dass Amazon sie regelmäßig zu Strafzahlungen verdonnert, weil Ware angeblich in beschädigten Kartons oder gar nicht geliefert worden sei, obwohl sie nachweislich und einwandfrei versendet wurde. Ob diese Produkte anschließend vernichtet oder verkauft wurden, konnte nicht nachvollzogen werden. Sicher ist nur: So oder so verdiente Amazon noch daran.