Mit der Digitalisierung steigt die Abhängigkeit von Cloud-Providern – und das heißt vorrangig: von US-Konzernen wie Amazon, Google oder Microsoft. Diesen Trend betrachten viele in Europa mit Sorge, wünscht man sich doch politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit sowie Datensouveränität. Doch bislang hat Europa nichts zu bieten, das in der Liga von AWS und Azure mitspielen könnte. Mit dem Projekt GAIA-X, vorgestellt auf dem Digital-Gipfel 2019 in Dortmund, soll ein europäisches Gegengewicht zu den aktuellen Herrschern über die Cloud entstehen. LANline sprach mit Klaus Ottradovetz, der als Cloud- und IoT-Experte für Atos am Projekt beteiligt ist, über den Stand der Dinge.
LANline: Herr Ottradovetz, zunächst die Frage: In welcher Weise ist Atos in das Gaia-X-Projekt involviert?
Klaus Ottradovetz: Das Engagement von Atos bei Gaia-X betrifft vor allem zwei Bereiche: erstens die Definition der Anwendungsszenarien – hier betreuen wir einen der Use Cases – und zweitens die Architektur. Als Unternehmen, das in München ebenso vertreten ist wie in Paris, haben wir gute Verbindungen zu hiesigen wie auch französischen Industriepartnern und -anwendern und konnten so in der Diskussion eine koordinierende Rolle in der deutsch-französischen Zusammenarbeit wahrnehmen.
LANline: Wie ist Atos in der Gaia-X Foundation engagiert, die das Vorhaben koordinieren soll?
Klaus Ottradovetz: Wir sind eines der 22 Gründungsmitglieder der Gaia-X Foundation, zu denen elf französische und elf deutsche Organisationen zählen, darunter Cloud-Service-Provider ebenso wie Anwenderunternehmen, zudem Forschungseinrichtungen wie das Institut Mines Telekom in Frankreich oder die Fraunhofer Gesellschaft. Das Projekt ist aus einer Initiative des BMWi entstanden, die Verantwortung wird zukünftig an die Gaia-X Foundation übergehen. Diese unterstützt die Community, steuert die Prozesse, stellt Personal und kümmert sich um Finanzierungsfragen. Ziel ist es, im Rahmen der Regularien Interoperabilität von Infrastrukturen und Applikationen zu schaffen. Dabei soll sie aber keine rein deutsch-französische, sondern langfristig eine europäische Non-Profit-Foundation darstellen.
LANline: Gaia-X ist ein Gegenentwurf zu den Cloud-Giganten. Wie stellt man sich das künftige Miteinander mit den Hyperscalern vor?
Klaus Ottradovetz: Die Gaia-X Foundation ist offen für eine Teilnahme der Hyperscaler. Sie verfolgt explizit keine Ausgrenzungsstrategie, sondern dient dem Ziel, eine föderierte Plattform für Provider und User zu schaffen – sofern eine vernünftige Grundlage auf Basis der Gaia-X-Prinzipien und -Policies etwa zu Portabilität, GDPR etc. gegeben ist.
LANline: Wie weit ist die Arbeitsgrundlage für Gaia-X inzwischen ausgearbeitet?
Klaus Ottradovetz: Zwei Dokumente mit Arbeitsergebnissen wurden bereits publiziert: erstens das Gaia-X Technical Architecture Document, das die Dienste definiert, die durch die Foundation gesteuert werden; zweitens das Dokument „Policy Rules and Architecture of Standards“. Dazu zählen insbesondere auch Richtlinien und Standards rund um das Thema Identity und Trust – sie bilden die Grundlage dafür, dass die Services sich gegenseitig vertrauen können. Zudem gilt es, die Kontrolle der Datennutzung zu gewährleisten: Was darf weitergegeben werden, für welche Dauer gilt das? Auf dieser Basis können Provider dann auch regulierte Daten austauschen.
LANline: Und was ist der Status quo der Umsetzung in die Praxis?
Klaus Ottradovetz: Work Packages für die konkrete Implementierung sind formiert, Pilotprojekte wird es voraussichtlich ab dem ersten Quartal 2021 geben. Bei unserem Event am 4. Juni, bei dem wir das technische Konzept vorgestellt haben, wurden schon erste Demonstratoren gezeigt. Wir erfinden schließlich das Rad auch nicht neu, Gaia-X baut auf existierenden Standards auf.
LANline: Auf welche Weise werden die Anwenderunternehmen einen Überblick über die Gaia-X-Angebote erhalten?
Klaus Ottradovetz: In einem Federated Catalogue kann jeder Provider seine Dienste publizieren. Diese werden dann auf Compliance mit den Vorgaben der Foundation überprüft.
LANline: Warum geht man den Weg eines föderierten Angebotskatalogs statt einer zentralen Website, auf der man sämtliche Services beziehen könnte, wie etwa bei Amazon?
Klaus Ottradovetz: Die Use Cases für Gaia-X kommen aus Bereichen wie Industrial IoT, Smart Living, Energy etc. Diese Bereiche haben jeweils unterschiedliche Regularien, bis hin zu den Kritis-Anforderungen. Gerade in solchen Branchen wollen die Anwender nicht, dass alle Provider öffentlich gelistet sind. Deshalb umfasst das Konzept einen Federated Catalogue statt einer Zentralisierung mittels einer bestimmten Website. So kann man eine dedizierte Gaia-X-Cloud aufbauen oder auch einen Unterkatalog bereitstellen, ohne die Interoperabilität zu gefährden.
LANline: Wer darf einen solchen föderierten Katalog aufbauen?
Klaus Ottradovetz: Einen solchen Katalog bereitstellen darf jeder Anbieter, der möchte, er muss nur mit den Gaia-X-Regularien compliant sein. Zu erwarten ist, dass es zahlreiche regionale Spezialisten geben wird, genauso wie branchenspezifische Clouds etwa für Healthcare, Defense usw. Anfangs wird die Foundation diese Services vorbereiten, das Ökosystem muss sich erst noch entwickeln.
LANline: Welche Kontrollinstanzen gibt es, und welche Sanktionen bei Verstößen gegen die Vorgaben sind vorgesehen?
Klaus Ottradovetz: Die Foundation stellt die Regeln auf, für die Zertifizierung kann es aber unabhängige Zertifizierer geben. Bei Nicht-Compliance ist ein Delisting möglich, also die Entfernung aus dem Katalog.
LANline: Welche Schritte stehen nun für Atos als Nächstes an?
Klaus Ottradovetz: Gaia-X dient dazu, diversen Anwendern Daten in sogenannten „Data Spaces“ gemeinsam zur Verfügung zu stellen, um darauf neue Use Cases, Integrationen, Applikationen oder auch KI-Umgebungen zu implementieren. 42 Use Cases sind definiert. Unser nächstes Ziel ist es nun, solche Data Spaces – man könnte auch sagen: Industrieplattformen – zusammen mit Kunden aufzubauen, um bei garantierter Datensouveränität mittels Kombination von Daten über Sektoren und Provider hinweg neue Advanced Smart Services und damit Mehrwerte zu schaffen.
LANline: Könnten Sie ein griffiges Beispiel für einen solchen Mehrwert nennen?
Klaus Ottradovetz: Die aktuelle Covid-19-Bekämpfung wäre ein prototypisches Beispiel: Es gilt, international Daten etwa zu Materialbeschaffung, Pandemiemustern etc. nutzbar zu machen – aber unter Wahrung der Datenintegrität und -souveränität. Weitere Einsatzbeispiele wären der von uns betreute Use Case „High-Performance- und Quanten-Computing als Service“ oder in der Industrie das kollaborative Condition-Monitoring über eine Lieferkette hinweg.
LANline: Herr Ottradovetz, vielen Dank für das Gespräch.