Letztlich geht es gar nicht um Industrie 4.0. Offenbar ist dieser zutiefst deutsche Begriff zu eng gewählt. Er adressiert zu sehr die Digitalisierung der Fabriken. Entscheidender ist das Gesamtpaket aus innovativen Geschäfts-, Finanzierungs- und Investitionsmodellen. Und die Modelle 4.0 stehen im Silicon Valley im Fokus, leider nicht in Deutschland.
Eine Marke wie „Made in Germany“ lässt sich zudem nicht führen wie eine Produktmarke. Es gibt nicht eine Entität, die die Marke führt – nicht einmal die Bundesregierung. Sehr viele Spieler sind involviert. Auf das „Made in Germany“ wirken neben wirtschaftlichen, auch soziale, kulturelle und politische Faktoren. Um die Herausforderung zu verdeutlichen, hilft es, sich dem Thema mittels neuer Kategorien zu nähern. Alte Unterscheidungen, wie die zwischen Software und Hardware, reichen nicht mehr aus. Stattdessen könnte man eher von Slowware versus Quickware sprechen. Slowware ist dabei traditionell eine deutsche Spezialität. Es handelt sich um sorgsam durchdachte und zeitaufwendig entwickelte, zumeist physische Produkte, die in einem nahezu perfekten System aus Entwicklung und Massenfertigung in hoher Qualität und Effizienz hergestellt werden. Das klassische Automobil mit seinem bewährten Verbrennungsmotor ist ein gutes Beispiel. Letztlich ist das gesamte deutsche System auf diese Slowware-Produkte ausgerichtet. Dazu gehören durchaus auch Ausbildungssystem, Arbeitsrecht und weitere gesetzliche Regelungen, die in den Bereich der Wirtschaft hineinreichen. Alles ist auf Gründlichkeit, Kontinuität, Planbarkeit, Sicherheit und Langfristigkeit ausgelegt. Starke Lobby-Verbände stellen die Weichen dafür, dass der Status quo erhalten bleibt. Dies trübt den Blick auf den wachsenden Innovationsdruck. In Hinblick auf Innovation sind in Deutschland die Mechanismen, die Prozesse und die Kultur für die erste bis dritte industrielle Revolution ideal geeignet. Der vierte Umbruch folgt anderen Regeln.
Dagegen steht Quickware für kurze Entwicklungszyklen und Produkte, die ständig disruptiv weiterentwickelt werden. Entscheidend ist hier das hohe Maß an Flexi-bilität, Agilität, Kreativität und Risikobereitschaft, wie sie sich beispielsweise im hohen Anteil an Wagniskapital widerspiegelt. Nicht zuletzt ist es die Bereitschaft zu einer radikalen Nutzerzentrierung, die erfolgreiche Quickware ausmacht. Ein gutes Beispiel ist das Smartphone. Hier tritt die klassische Qualitätswahrnehmung hinter das Erlebnis völlig neuartiger Leistungen und neuen Designs zurück. Das Ergebnis ist eine starke, weil emotionale, Kundenbindung. Quickware, das bedeutet „Tesla“, nicht „Verbrennungsmotor“ deutscher Tradition und Prägung, – und momentan auch eher „USA“ als „Deutschland“.
Einen doppelten Weg beschreiten
Welchen Weg sollte Deutschland vor diesem Hintergrund gehen? Wie lässt sich die Marke „Made in Germany“ modern und wettbewerbsfähig halten? Zunächst sollte sich der Wirtschaftsstandort durchaus auf das konzentrieren, was er gut kann und was ihn auszeichnet. Dies ist nach wie vor der klassische Maschinen- und Anlagenbau. Das umfasst auch die Fähigkeit, funktionierende Systeme der Massenfertigung zu konzeptionieren, zu planen und zu implementieren. Hier steckt derzeit viel Know-how. Gleichzeitig muss Deutschland danach streben, mehr und zeitgemäße Innovationskraft, zu entwickeln. Mehr und vor allem grundlegende, Innovationen bis hin zu Disruptionen sind notwendig. Deutschland muss versuchen, in den Bereich der Quickware vorzustoßen.
In vielerlei Hinsicht muss die deutsche Wirtschaft das „Made in Germany“ und ihr Qualitätsversprechen also in den Bereich der Digitalisierung migrieren, wenn nicht gar dort erst begründen. Es bringt nichts, die Wirtschaften einzelner Länder unter der klassischen Perspektive gegeneinander antreten zu lassen. Die Unicorns oder Decacorns mit ihren digitalen Geschäftsmodellen sind die neuen Staaten. Das Silicon Valley ist die Marke, nicht die USA. Die Begriffe „Made in Germany“ und „Qualität“ müssen nicht ersetzt werden. Dafür ist dieses Markenkapital zu wertvoll. Sie müssen jedoch ergänzt, erweitert, neu aufgeladen werden.
Dies kann keine bloße Aufgabe der Wirtschaft sein. Schritt für Schritt, aber kontinuierlich ist ein Perspektivwechsel notwendig, der schließlich auch in notwendigen Anpassungen in Bereichen wie Bildungssystem und gesetzlichen Rahmenbedingungen mündet. Nur dann bleibt „Made in Germany“ weiter relevant, der Wirtschaftsstandort attraktiv und die Lebensqualität insgesamt gewährleistet.
Christoph Pienkoß, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Qualität e. V. (DGQ)