Auch die Möglichkeiten der heutigen Technik schöpfen die deutschen Notfall-Apps nicht aus, eine bidirektionale Kommunikation beispielsweise ist bislang nicht möglich. Welches Potenzial dadurch verschenkt wird, zeigt ein Blick in die USA. Dort spielen spätestens seit Hurrikan „Sandy“ mobile Technologien eine zentrale Rolle bei der Krisenbewältigung. Die Alarm-App der amerikanischen Katastrophenschutz-Behörde FEMA zeigt nicht nur den Ort der Gefährdungen an, sondern navigiert den Nutzer direkt zum nächstgelegenen Schutzraum. Gleichzeitig kann jeder einzelne zum aktiven Mithelfer werden: Sieht er eine Gefahr, etwa einen Brand oder einen aufgeweichten Damm, kann er über die FEMA-App ein Foto oder ein Video hochladen. Bei den deutschen Apps bleibt die Bevölkerung bislang primär Informationsempfänger, Rückmeldungen sind nicht vorhergesehen. Eine Massenalarmierung im Notfall wird weder mit den Sirenen noch mit den derzeit verfügbaren Notfall-Apps erreicht – die schreibt allerdings die Richtlinie zum Europäischen Kodex für elektronische Kommunikation (European Electronic Communication Codex, kurz EECC) vor (siehe Infokasten anbei). Bis zum 21. Juni 2022 müssen alle EU-Mitgliedsstaaten ein digitales Warnsystem eingerichtet haben, mit dem sie 95 Prozent der Bevölkerung über ihr Handy erreichen. Dieses System soll im Falle einer Naturkatastrophe, eines Terroranschlags oder eines anderen schweren Notfalls Warnungen über das öffentliche Mobilfunknetz unabhängig vom Provider und dem Endgerät an alle Menschen in der betroffenen Region schicken.
Ein effektives, modernes Warnsystem über das Mobilfunknetz muss dabei eine Lösung für folgende Fragen bieten: Erreicht das System wirklich alle Personen im betroffenen Gebiet? Informiert es in Echtzeit darüber, wie viele Personen sich in dem Krisenbereich befinden und wer die Warnmeldung erhalten hat? Ist sichergestellt, dass der Handynutzer sein Gerät nicht erst für den Dienst aktivieren und konfigurieren muss? Können Nachrichten an ausländische Personen in ihrer Muttersprache verschickt werden? Ist eine bidirektionale Kommunikation möglich, so dass sich die zuständigen Stellen von den Menschen vor Ort bestätigen lassen können, dass sie in Sicherheit sind beziehungsweise es möglich ist, ihre Notrufe entgegenzunehmen? Kann das System mit anderen Kommunikationsmitteln wie Sirenen, TV, Radio oder Digital Signage als Teil einer ganzheitlichen Warnlösung koordiniert werden?
Das öffentliche Warnsystem muss also unter Nutzung der Telekommunikationsinfrastruktur Nachrichten an alle Personen senden, die sich im Bereich eines Mobilfunkmasten aufhalten, ohne dass dafür vordefinierte Datenbanken mit Mobiltelefonnummern notwendig sind. Zudem sollte es umfassende Analyse- und Berichtsfunktionen enthalten, mit denen die Verantwortlichen messen können, wie viele Nachrichten mit welchen Modalitäten, Zustellbarkeitsraten und Benachrichtigungsbestätigungen gesendet wurden. So können Nachrichten wiederholt und verschiedene Modalitäten verwendet werden, um sicherzustellen, dass wirklich alle Menschen in der betroffenen Region erreicht werden. Das öffentliche Warnmeldungssystem sollte automatisch das Herkunftsland einer Person etwa anhand der SIM-Karte erkennen und Nachrichten in der entsprechenden Sprache senden. Nur so werden auch Touristen und Geschäftsreisende im Notfall erreicht. Genauso wichtig ist die Möglichkeit einer wechselseitigen Kommunikation mit den Menschen vor Ort, um deren Sicherheit zu überprüfen. Für die Notfallteams wiederum ist es entscheidend zu wissen, wie viele Personen sich in der betroffenen Region aufhalten. Dieses Wissen erlaubt Schätzungen für Planungszwecke und den Einsatz von Notfallpersonal. Zudem können die Teams überprüfen, ob der Katastrophenbereich erfolgreich evakuiert werden konnte.
Ohne eine digitale Lösung geht es in Zukunft nicht. Wie das gehen kann, zeigt Island. Das Land hat aktuell ein digitales Warnsystem auf Basis des öffentlichen Mobilfunknetzes umgesetzt, um seine 330.000 Einwohner und über zwei Millionen Besucher pro Jahr im Ernstfall flächendeckend zu schützen.
Andreas Junck ist Director of Sales DACH bei Everbridge.